Schlingensief ist Jesus
«Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir» heisst das neue Stück des Regisseurs Christoph Schlingensief. Damit thematisiert er seine Todesangst.
Er liegt weinend im Bett und fleht: «Bitte jetzt nicht berühren!» Alle sehen zu, wenn diese intime Szene des kranken Christoph Schlingensief über die Leinwand flimmert, und alle hören seine Stimme, die schluchzend seine Verzweiflung über den Lungenkrebs hervorstösst. Eine grössere Selbstentblössung ist kaum vorstellbar, als sie das Publikum in Christoph Schlingensiefs neuem Fluxus-Oratorium «Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir» an der Ruhrtriennale in Duisburg erlebt.
Die Gebläsehalle im verlassenen Duisburger Stahlwerk wurde als Kirche eingerichtet: Mit bunten Glasfenstern, Altarnischen - und einer Monstranz, in der statt der geweihten Hostie ein Röntgenbild zu sehen ist: die von Krebs befallene Lunge von Christoph Schlingensief. In Kirchenbänken sitzt das Publikum, sieht Filme von früheren Aktionen und hört Schlingensief zu: seiner Abrechnung mit Gott, der ihn im Stich liess, seiner Liebe zu Jesus, dessen Leiden am Kreuz ihm Kraft gibt, seiner Hass-Liebe auf die Eltern, seinen Vorsätzen, sich selbst zu lieben. Es sind Gedanken und Gefühle, die wohl jeden Krebskranken begleiten, die aber die meisten von ihnen für sich behalten.
Heilung der narzisstischen Kränkung
Christoph Schlingensief hingegen macht seine Todesangst öffentlich. «Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt», zitiert er Joseph Beuys - in den Interviews, die er gab in der letzten Woche, wie jetzt auch im Oratorium, dieser seltsamen Liturgie, die er zu seiner Heilung veranstaltet. Der Eindruck ist zwiespältig.
Einerseits steigt der Verdacht auf: Hier heilt jemand vor allem die narzisstische Kränkung, die der Krebs für ihn bedeutet hat. Und Schlingensief hat die Mittel dazu: Mit grossem Aufwand zelebriert er sein Leid, er sitzt selbst in der Position von Jesus beim Abendmahl, umgeben von Angela Winkler (Maria) und Margit Carstensen (Magdalena), er lässt Sängerinnen in wogenden schwarzen Roben für sich singen, lange Prozessionen mit Kinder- und Gospelchor in die Kirche einziehen, um verkünden zu können: «Ich bin so beleidigt!» Ist das nicht Selbstverherrlichung - und Blasphemie dazu?
Andererseits: Der 47-jährige musste sich einen Lungenflügel wegoperieren lassen, der zusammen mit Lymphdrüsen vom besonders bösartigen Adenokarzinom befallen war. Bei einem solchen Befund ist die Prognose nicht rosig. Christoph Schlingensief kämpft mit seiner Todesangst, wenn er Gott und alle Heiligen als Beistand anruft, wenn er die liturgische Wandlung vollzieht mit einem Zitat von Heiner Müller, der diese Verwandlung als Sterben begreift. Das Publikum wird zur Gemeinde, das diese Angst immer deutlicher miterlebt bis zum Ende, wenn im Dunkeln das Ticken eines Metronoms abbricht und auf der Leinwand das Bild des kleinen Christoph stehen bleibt, der gerade «erschossen werden» spielt.
Weitere Vorstellungen: 23., 25., 26., 28. Sept., 19.30 Uhr, Landschaftspark Duisburg-Nord.
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