AsylentscheideWegen Pfusch bei Auswahl von Richtern stehen Hunderte Asylurteile infrage
Das Bundesverwaltungsgericht hat bei der Auswahl der Richter und Richterinnen mutmasslich Vorschriften verletzt. Nun könnten Betroffene ein neues Urteil verlangen.

Am Anfang ging es um «Richter Gnadenlos» oder um «den strengsten Asylrichter der Schweiz». So wurde Bundesverwaltungsrichter David R. Wenger (SVP) medial genannt. Der schwere Vorwurf an Wenger lautet, er habe in einem seiner Fälle eine missliebige Richterin durch eine andere ersetzt, um den Asylfall in seinem Sinne beeinflussen zu können. In dieser Frage prüft die zuständige Parlamentskommission ein Amtsenthebungsverfahren gegen Wenger.
Nun zeigt sich aber aufgrund von getrennt geführten Recherchen dieser Zeitung und der «Rundschau» von SRF, dass manuelle Manipulation in den Richtergremien am Bundesverwaltungsgericht alltäglich war. Das Auswechseln von Richterinnen und Richtern geschieht viel häufiger, als dies das Gericht bisher öffentlich einräumte. Und zwar vor allem in den Asylabteilungen.
Gerade in Wengers Asylabteilung V haben die zuständigen Richter offenbar nie kontrolliert, ob die jeweiligen Richterzusammensetzungen überhaupt dem Reglement entsprechen.

Die «Rundschau» zeigt in ihrer Sendung vom Mittwoch gerichtsinterne Dokumente. Diese sollen belegen, dass Unbefugte Spruchkörper bei einem penibel arbeitenden Asylanwalt extra abgeändert haben. Die manuellen Änderungen deuten gemäss «Rundschau» auf Manipulationen hin.
Häufige Änderungen
Um die ganze Sache zu verstehen, muss man wissen, wie am Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen die Richtergremien für die einzelnen Fälle zusammengesetzt werden. Im Fachjargon nennt man diese Richtergremien «Spruchkörper».
Um ein maximales Mass an Neutralität herzustellen, werden diese Spruchkörper à drei Personen mit einer Software automatisiert zusammengestellt. Nur in wenigen Einzelfällen sei es nötig, das vom Computer ausgespuckte Resultat im Nachhinein zu korrigieren, betonten die Verantwortlichen am Bundesverwaltungsgericht bisher.
Seit eine unabhängige Studie der Rechtsgelehrten Regina Kiener und Andreas Lienhard der Universitäten Zürich und Bern sowie der Ökonomen Konstantin Büchel und Marcus Roller zum Schluss kommt, dass «der vom Bundesverwaltungsgericht erweckte Anschein einer grundsätzlich automatisierten Spruchkörperbildung nicht den Tatsachen entspricht», gehen in St. Gallen und im Berner Bundeshaus hinter den Kulissen die Wogen hoch. Nur bei 5 von 100 Fällen sei das automatisch zusammengesetzte Richtergremium im Nachhinein von Hand verändert worden, sagte das St. Galler Gericht bislang.
Nun aber zeigt die Studie Kiener/Lienhard, dass in satten 45 von 100 Fällen Richterinnen und Richter ausgetauscht wurden. Also neunmal mehr als vom Gericht bisher zugegeben. Die Eingriffe sind anscheinend nötig, weil die Software nicht alle Fallzuteilungskriterien abbilden könne. So muss zum Beispiel eingegriffen werden, wenn der Computer für einen deutschsprachigen Fall eine Mehrheit französischsprachiger Richter generiert oder wenn er zwei zusammenhängende Fälle nicht dem gleichen Spruchkörper zuteilt.
Fehlende Begründungen
Doch damit nicht genug: In 40 Prozent der von Hand geänderten Spruchkörper fehlt die erforderliche Begründung, warum eine Richterperson ersetzt wurde. Gemäss Auskunft des Gerichts handle es sich dabei vor allem um «Umverteilungen bei überlasteten Richterinnen und Richtern oder um Stellvertretungen».
Diese Begründungen seien zwar nicht im System hinterlegt worden. Man könne sie im Einzelfall aber aus anderen Quellen rekonstruieren, so das Gericht. Der Medienbeauftragte des Bundesverwaltungsgerichts Rocco Maglio sagt, die Bildung der Spruchkörper sei stets nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt. Deshalb bestehe bei den abgeschlossenen Fällen auch kein Anlass für eine Überprüfung.
Fehlende Kontrollen
Die hohe Anzahl an nachträglichen und zudem unbegründeten Korrekturen bei den Spruchkörpern ist das eine. Dazu führt die parlamentarische Geschäftsprüfungskommission derzeit eine Untersuchung. Ein anderes Problem ist laut Insidern die Tatsache, dass während Jahren Unbefugte das automatische Programm völlig selbstständig bedienten, nämlich Kanzleiangestellte oder Gerichtsschreiber, wie die Studie Kiener/Lienhard ergab.
Dabei würden verfassungsrechtliche Vorgaben klar verlangen, dass eine unabhängige und nicht weisungsgebundene Richterperson die Letztverantwortung für die Zuteilung übernehmen müsse und die Zuteilung etwa durch die Kanzlei deshalb zu überwachen habe. In der Regel erfolgt die verlangte Kontrolle durch das Abteilungspräsidium. Gemäss Gericht sei das heute auch in allen Abteilungen der Fall, in Asylabteilung V allerdings erst seit Frühjahr 2021.

Die Hauptverantwortung für diesen Organisationsmangel trägt die Gerichtsleitung. Sie hätte sicherstellen müssen, dass in allen Abteilungen das Vieraugenprinzip bei den Spruchkörperzuteilungen umgesetzt wird. Gerichtssprecher Rocco Maglio sagt auf Anfrage dazu, das Gericht habe «Entwicklungspotenzial» bei der automatischen Richterzusammenstellung «erkannt» und «zwischenzeitlich bereits Optimierungen vorgenommen».
Dass das Gericht lernfähig ist, ist das eine. Das andere aber betrifft die zentrale Frage, wie häufig es zu unerlaubten reglements- und allenfalls sogar gesetzeswidrigen Fehlern bei der Spruchkörperbildung in all den Jahren zwischen 2008 und 2022 kam. Die Frage kann bisher niemand beantworten.
Anzahl Fehler bleibt im Dunkeln
Recherchen dieser Zeitung ergeben, dass kontrollierende Richterinnen und Richter zeitweise drei, vier gravierende Zuteilungsfehler pro Monat entdeckt haben. Solche blieben in der Abteilung V bis 2021 unerkannt. Das ergäbe allein für diese Asylabteilung über 500 Fälle. Unklar ist zudem, wie viele Fehler früher in den anderen Abteilungen unentdeckt geblieben sind.
Die Vielzahl von abgeschlossenen Asylfällen, bei denen möglicherweise ein nicht korrekt zusammengesetzter Spruchkörper im Spiel war, könnte für das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen nun verheerende Folgen haben; Rechtssuchende haben nämlich gemäss Verfassung Anspruch auf ein korrekt zusammengesetztes Gericht, das über sie urteilt. Dafür sorgt Artikel 121 im Bundesgerichtsgesetz, das auch für das Bundesverwaltungsgericht gilt. Der Gesetzesartikel räumt Rechtssuchenden die Möglichkeit ein, einen Fall neu aufzurollen, wenn das Gericht beim Urteilsspruch falsch zusammengesetzt war.
Riesiger Zusatzaufwand
Eine Wertung von unabhängiger Seite fällt deshalb kritisch aus. Rechtsprofessor Felix Uhlmann von der Universität Zürich sagt zwar, eine definitive Einschätzung sei schwierig, er habe auf Anhieb keine klaren Präjudizien gefunden. «Aber ich schliesse nicht aus, dass das Bundesverwaltungsgericht mit einer erheblichen Anzahl von Revisionsgesuchen befasst sein könnte.»
Revisionsgesuche beinhalten die Forderung, einen bereits abgeschlossenen Fall neu aufzurollen.
Fehlende Kontrollen, Unbefugte, die Änderungen vorgenommen haben: Der Fall des angeblich mutwillig manipulierenden Bundesverwaltungsrichters David Wenger erscheint aufgrund der aufgedeckten Unzulänglichkeiten am Gericht in einem anderen Licht als bisher. Wengers Anwalt sagt, sein Mandant habe einen Fehler der Kanzlei bei der Zusammenstellung des Spruchkörpers entdeckt und wieder behoben. Damit habe er gerade einen Revisionsfall verhindert.
Die Gerichtskommission des Parlaments wird die Sache nun zu prüfen haben.
Korrektur von 16 Uhr: In einer früheren Version des Artikels waren nur Regina Kiener und Andreas Lienhard als Studienautoren aufgeführt.
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