Pep Guardiola der AHV
Die Reform des Alain Berset bringt nichts und sieht bloss gut aus. Folge II unserer beliebten Populismus-Serie

Wir haben das letzte Mal Populismus als eine Methode bestimmt, die darin besteht, grosse Versprechen zu machen, deren Verwirklichungschance sehr klein ist. Es klingt zu gut, um wahr zu sein, heisst das im Sprachgebrauch, seit Demagogen, Verführer und andere Romantiker unser Leben für uns gestalten möchten. Ein solches Projekt ist die AHV-Reform des Alain Berset, über die wir am 24. September abstimmen. Es ist die Vorlage eines Bundesrates aus dem Kanton Freiburg, der sein Leben lang vor allem eines war: ein Politiker, zwischendurch hat er studiert, von der Privatwirtschaft kennt er vor allem deren Lohnbeiträge und Steuern, die dem Staat zufliessen – wenig mehr.
Das spricht nicht an sich gegen ihn, erklärt aber, warum er zum Utopischen neigt, auch wenn er auftritt, als wäre er ein knochenharter Realist. «Ich sage dieser Generation ganz klar», liess sich Berset vor Kurzem im Tages-Anzeiger vernehmen und er meinte die Jungen: «Diese Vorlage ist ein Fortschritt für euch. Wenn ihr Nein stimmt, könnt ihr nicht sicher sein, dass ihr noch eine AHV-Rente bekommt. Denn die Kassen werden sich langsam, aber unerbittlich leeren.» Das ist klassischer Populismus: Angst, Untergang, elegante Rhetorik, verbunden mit unüberprüfbaren Prognosen und einer bemerkenswert kreativen Darstellung, was Ursachen und Wirkung betrifft. Wenn jemand nämlich dafür sorgt, dass die AHV schon in wenigen Jahren wieder mit hohen Defiziten zu Rande zu kommen hat – dass mit anderen Worten sich die «Kassen leeren», dann Berset selbst, oder genauer: jene Parlamentsmehrheit von CVP, SP und den übrigen Mitläufern, die, statt die AHV zu sanieren, sie ausbauen, in der Hoffnung, dass sie damit für zehn Jahre Zeit kaufen und niemand merkt, dass sie eigentlich nichts davon getan haben, was sie hätten tun sollen.
Selten sind Bundesrat und Parlament mit einer populistischeren Vorlage vor das Volk getreten, dessen Intelligenz sie offenbar so gering schätzen, dass man es bestechen muss, wenn man etwas von ihm will. Die Bestechung beträgt: 70 Franken im Monat, mit dem die AHV-Rente aller Neurentner aufgebessert werden soll, ein Klacks, wenn man es hört, tatsächlich aber eine hohe Summe für die AHV. Im Jahr 2030, also in bloss dreizehn Jahren, wird dieses politische Schmiergeld die Altersversicherung rund 1,4 Milliarden Franken kosten, das ist mehr als die ganzen Ersparnisse, die die AHV etwa dadurch erzielt, dass jetzt das Rentenalter der Frau auf 65 erhöht werden soll. Kurz, was man den Frauen abverlangt, verbessert nicht etwa die langfristige Finanzlage der AHV, sondern geht sogleich wieder verloren, weil man es ausgibt für Leute, die das entweder nicht brauchen oder denen das nicht viel hilft.
Guteidgenössischer Kompromiss?
Auf den ersten Blick sieht alles wie ein guter Kompromiss zwischen links und rechts aus: Um den Umwandlungssatz für die Renten in der zweiten Säule zu senken – ein rechtes Anliegen –, um endlich das Frauenrentenalter jenem der Männer anzugleichen, ebenfalls ein rechter Wunsch, sollen gleichzeitig die Einnahmen für die AHV erhöht werden, was ein linkes Projekt darstellt, wofür man die Mehrwertsteuer anheben will sowie die Lohnbeiträge an die AHV. In der Diskussion geht oft vergessen, eine wie grosse Zumutung diese beiden letzten Massnahmen für die einzelnen, nach wie vor arbeitenden Menschen sind: Sie zahlen mehr für die Rente, um einst eine tiefere Rente zu bekommen. Das gilt besonders für jene, die noch jung sind.
Weil aber jedem Bürger einleuchtet, dass unsere Altersversicherung irgendwie angepasst werden muss, weil wir immer älter werden und immer weniger Junge dafür arbeiten, dass immer mehr Alte die AHV beziehen können, wäre dieser Kompromiss durchaus mehrheitsfähig gewesen in einem Volk, das seit Jahrzehnten bewiesen hat, dass es meistens klüger entscheidet als die meisten Politiker.
Doch das reichte der Linken nicht, die die AHV seit deren Einführung im Jahr 1948 für ihre grösste Errungenschaft hält, es ist ihr politischer Fetisch, wo sie sich sicher glaubt, es musste ein symbolischer Gewinn im politischen Kampf realisiert werden, wo die Linke aus guten Gründen eigentlich in der Rücklage ist. Niemand ausser der Linken glaubt, dass man die AHV weiter ausbauen kann, niemand meint, dass die Alterung unserer Gesellschaft nicht irgendwann zwangsläufig zu einem etwas höheren Rentenalter führen muss, niemand bildet sich ein, die internationalen Kapitalmärkte dazu bewegen zu können, höhere Zinsen zu zahlen, was es den Pensionskassen erleichtern würde, unsere Renten zu finanzieren. Wir können uns auf den Kopf stellen oder die Luft anhalten, doch es ändert nichts: Das Rentenalter wird in die Höhe gehen, den Umwandlungssatz müssen wir senken. Trotz dieser verzweifelten Lage hat die Linke es fertiggebracht, viel zu viel zu erreichen, was nur möglich war, weil die CVP entweder die Nerven verloren oder die Luft angehalten hat. Was sich daraus ergab, ist kein Kompromiss zwischen links und rechts, sondern ein Triumph der Populisten.
Denn die 70 Franken werden wahllos verteilt – nicht an jene gezielt, die etwa durch die Senkung des Umwandlungssatzes in Schwierigkeiten geraten, wofür jeder vernünftige Mensch zu gewinnen gewesen wäre, sondern an alle, an die Millionäre und die Milliardäre, an Leute, die diese 70 Franken schlicht nicht brauchen. Darüber hinaus zieht ausgerechnet eine Generation am meisten daraus Nutzen, nämlich meine, die vielleicht zu den materiell glücklichsten Generationen der Weltgeschichte gehört. Ich rede von den heute 45- bis 55-Jährigen. Wir werden einst jene Neurentner sein, die man mit 70 Franken darüber hinweg trösten will, dass der Umwandlungssatz angepasst worden war; dabei sind wir auch eine der ersten Generationen, die maximal von der zweiten Säule profitieren wird. Bis 1985 war die Berufliche Vorsorge (BVG) nicht obligatorisch und wird nach wie vor aufgebaut, erst 2025 werden Leute pensioniert, die eine vollständige Beitragszeit von 40 Jahren einbezahlt haben. Trotz tieferem Umwandlungssatz kommen wir daher auf gute Pensionen, während viele, die heute pensioniert sind, noch mit tiefen Renten aus der zweiten Säule leben, da sie seinerzeit viel weniger Geld angespart haben.
Nein, Nein, Nein
Doch diese heutigen Rentner – das muss betont werden – erhalten keine zusätzlichen 70 Franken, stattdessen dürfen sie höhere Mehrwertsteuern bezahlen. Schlechterdings grotesk sind die Auswirkungen der Reform auf die Ärmsten unter den Rentnern: Jene, die künftig pensioniert werden und Ergänzungsleistungen beziehen, weil sie sonst nicht überleben können. Zwar erhalten sie den Zustupf von 70 Franken, dafür werden ihnen die Ergänzungsleistungen im gleichen Umfang gekürzt, was sie am Ende benachteiligt. Die Ergänzungsleistungen müssen sie nämlich nicht versteuern, die zusätzlichen 70 Franken aber sehr wohl, gleichzeitig zahlen auch sie höhere Mehrwertsteuern: Unter dem Strich haben sie weniger Geld zur Verfügung als vor dieser angeblich sozialen Reform. Hat das irgendetwas mit dem Parteiprogramm der Sozialdemokraten zu tun?
Vielleicht schon, wenn man die AHV-Politik der SP und insbesondere von Berset als zutiefst populistisch erkennt. Es werden unbequeme Wahrheiten wie die Alterung und deren Folgen entschlossen schön geredet und den Bürgern ein Nirwana der ewigen AHV vorgespiegelt, wie es sich nie mehr finanzieren lässt.
Es werden 70 Franken dem jubelnden Volk zugeworfen, wie das einst die römischen Kaiser taten, wenn sie im Triumph durch Rom zogen, 70 Franken, die man nach dem fröhlichen Umzug den Leuten oder ihren Kindern wieder abnimmt.
Das ist keine Reform. Die drängenden Probleme der AHV, insbesondere das Rentenalter, werden nicht angetastet, es wird poliert und etwas gepützelt, aber nirgends etwas verbessert. Schon 2027, das zeigen Prognosen des Bundesamtes für Sozialversicherung, also Bersets Leute selber, weist die AHV wieder ein Defizit von einer Milliarde Franken auf. Was soll eine solche Reform?
Es ist vielleicht dies die grösste Leistung des Alain Berset: Dass es ihm gelingt, durch die Vortragssäle des Landes zu ziehen, ohne rot zu werden, immer picobello gekleidet, wenn vielleicht auch in etwas zu engen Anzügen, so dass er aussieht wie der Pep Guardiola der AHV –, dass es ihm überdies glückt, als vernünftiger, pragmatischer Linker zu gelten, wo der Pragmatismus in Tat und Wahrheit bedeutet: den Bürgern immer mehr Geld abzuknöpfen, ohne dass sie es merken, ohne dass sie darüber klagen, ohne dass es ihnen etwas bringt.
Ein Nein ist daher dringend zu empfehlen.
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