Paläste an der Sackgasse
Wladimir Putin hat gewonnen, aber eigentlich weiss er nicht weiter.

Wladimir Putin hat die Wahl in Russland gewonnen – genauso wie russische Athleten an den Olympischen Winterspielen 2012 in Sotschi viele Medaillen gewonnen haben. Es wurde gedopt, mit allen Mitteln, und zwar schon lange vor den Spielen. Zwar wurde über Wahlfälschungen lamentiert, aber eigentlich ist das russische System schon weit über das stümperhafte bündelweise Einwerfen falscher Wahlzettel hinausgewachsen. Die Bevölkerung wurde über Monate und Jahre in die richtige Richtung gecoacht. Allein schon das zeigt, dass die Regierung ihrem Volk nicht über den Weg traut – und das Volk der Regierung auch nicht.
Auf WhatsApp machten schon Wochen vor der Wahl böse Memes die Runde, im Sinne von: «Unter der fürsorglichen Aufsicht und Anleitung der Geschäftsleitung machen wir unser Kreuz am richtigen Ort auf dem Wahlzettel.» Die sozialen Netzwerke trieften vor Sarkasmus. Während der Apparat den Oppositionellen Alexey Nawalny, der bisweilen ziemlich unappetitliche nationalistische Meinungen äussert, weitgehend kaltgestellt hat, deckt seine Organisation immer weitere Skandale aus Putins Umfeld auf.
So wurde mit einer Drohne der Palast (anders kann man es nicht nennen) des stellvertretenden Ministerpräsidenten Igor Schuwalow (Jahrgang 1967) fotografiert: Geschwungener Neobarock über mehrere 1000 Quadratmeter, plus Park im Stile der Zarenschlösser im Petersburger Vorort Puschkin, davor zur Abdeckung hohe Wohnblöcke mit teuren Wohnungen. Allerdings haben diese nach Süden kein Fenster, obwohl Südsicht und damit ein paar wenige Wintersonnenstrahlen in Moskau besonders wertvoll sind. Offenbar soll niemand die bescheidene Behausung jenes Mannes sehen, der als Putins Kronprinz gilt.
Repression statt Raison
Das alles ist nicht populär in Russland – und das weiss der Apparat. Doch statt seine Bediensteten zur Raison zu bringen, reagiert er mit Repression. Als Reaktion auf die Enthüllung von Schuwalows Schloss wurden Drohnen verboten. Als Ministerpräsident Dmitri Medwedew einmal ein Bild von einem Steinpilz auf sozialen Medien postete, den er als volksnahes Regierungsmitglied gerade in der Nähe seiner Datscha gefunden hatte, war er so doof, die Geodaten mit dem Bild mitzuschicken. Dank Google Earth fand man sofort heraus, dass das Bild in einem streng bewachten, hoch umzäunten Areal in der Nähe von Nishni Novgorod aufgenommen wurde. Dessen Bebauung lässt auf grösstmöglichen Luxus schliessen. Und wieder kam dieselbe Reaktion – der Zugriff auf soziale Medien, insbesondere internationale, wurde staatlich behindert.
Auch wenn viele Russen Putins Politik mehr oder weniger unterstützen, die wahre Meinung der Leute erkennt man an den politischen Witzen, die sie erzählen: Fragt ein Russe in Schweden: «Warum ist hier alles so schön und sauber und aufgeräumt und die Leute so wohlhabend?» Antwortet der Schwede: «Weil wir nicht in den Weltraum fliegen.» Putin stellt sich mit seinen Grossmachtambitionen und seiner Angeberei mit Wunderwaffen (die allerdings teilweise aus der Sowjetzeit stammen» als alternativlos dar, als Garant für einen vom Westen bedrohten Frieden. Das kommt bei jenen 25 bis 30 Prozent der Leute gut an, die in jedem x-beliebigen Land der Welt bereit sind, populistische Politiker zu wählen – plus den Opportunisten, deren Zahl in autokratischen Regimen wohl höher ist als in Demokratien.
Freiheit oder Karriere
Alle andern bilden sich ein differenzierteres Urteil – und das können die Russen sehr wohl. Russland hat von der Sowjetunion ein hervorragendes Bildungssystem und eine entsprechende Tradition geerbt. Doch Bildung hat den unangenehmen Nebeneffekt, dass sie sehr viele Leute zum Denken anregt. Und genau davor muss sich jede autoritäre Regierung fürchten.
Die Russen haben gesehen, wie die Regierung Jelzin und vor allem der liberale Ministerpräsident Egor Gaidar in den 1990er-Jahren mit der Privatisierung des Wohnraums sehr viel Wohlstand geschaffen haben. Fast jede Familie hatte damit eine eigene Wohnung und viele auch ein Sommerhäuschen mit Garten, und das alles ohne Hypotheken. Weil die Bevölkerung abnimmt, wurde das vererbt und man hatte alle paar Jahre irgendwo ein Zimmer, eine Einzimmerwohnung, ein Auto oder ein Gärtchen zu vermieten oder zu verkaufen, mit dessen Erträgen man sich Konsum und Auslandsreisen leisten konnte. Mit den neuen Steuergesetzen geht nun aber 30 Prozent des Verkaufserlöses einer Immobilie an den Staat – womit der Immobilienmarkt praktisch abgewürgt wurde – oder er verschiebt sich in die informelle Welt. Damit ist die grösste Geldquelle der Allgemeinheit versiegt.
Bei einer stagnierenden Wirtschaft und sportlichen Preiserhöhungen für Lebensmittel sehen viele Russen ihren Wohlstand der letzten Jahre schwinden. Das finden lange nicht so viele Leute so toll, wie im staatlich beherrschten Fernsehen immer behauptet wird.
Zudem wird der Staat grösser und restriktiver. Während die Wirtschaft stagniert, bläht sich der Staat auf und bietet immer mehr Jobs an. Allerdings unterliegen immer mehr Stellen der Geheimhaltung und damit auch Reisebeschränkungen – wie damals in der Sowjetzeit. Viele Leute um die 50 sind in den 1990ern aus dem Gefängnis der Sowjetunion ausgebrochen und haben mit wenig Geld und viel Enthusiasmus die Welt erkundet. Besonders populär waren Autostopp-Rennen durch ganz Europa, etwa von Moskau via Nordkap nach Barcelona, ohne etwas zu bezahlen. Diese Generation Menschen findet sich heute in einer Situation, in der sie nur noch Karriere machen oder sich und ihrer Familie eine Lebensgrundlage sichern kann, wenn sie auf Auslandreisen und internationale Kontakte verzichtet. Da wird deutlich hörbar gemurrt, innerhalb und ausserhalb des Apparates.
In guter Gesellschaft
Im Kreml weiss man das – und zieht die Schraube an. In dieser Situation war schon Michail Gorbatschow. Als es nicht mehr so gut lief, haben alle Machthaber vor ihm die Schraube angezogen, bis es wieder ging – oder bis es nicht mehr ging. Gorbatschow konnte nicht mehr weiter anziehen und versuchte, die Schraube zu lockern. Doch dann fiel alles auseinander.
Russland ist heute schon mitten in einer Situation, die an die breschnewsche Stagnation erinnert, die viele Jahre gedauert hat. Die Ratlosigkeit wird mit nationalistischem Gedröhn und aussenpolitischen Abenteuern kompensiert, die Russland bisher vor allem geschadet haben.
Seine Wissenschaftler mögen noch so gut sein, seine Hightech-Industrie noch so respektiert, die Putin-Regierung hat sie zu unzuverlässigen Partnern gemacht. Die Ukraine, früher der grösste Gaskäufer Russlands, kann Gas mittlerweile auch über die westeuropäischen Pipeline-Netze beziehen. Gegen den Bau der Pipeline Nord Stream 2, die noch mehr russisches Gas an Osteuropa vorbei direkt nach Deutschland leiten würde, regt sich in Deutschland Widerstand. Mit aussenpolitischen Husarenstreichen hält man die nationalistisch gesinnte bestimmte Klientel bei Laune, ruiniert aber gleichzeitig die Wirtschaft und rennt damit immer weiter in jene Sackgasse, in der sich schon viele russische Regierungen vor Wladimir Putin verrannt haben.
Das weiss man im Kreml. Doch dort weiss man auch, dass bisher kein russischer Machthaber einen Ausweg aus dieser Situation gefunden hat – jedenfalls keinen, bei dem der Hofstaat seine Paläste behalten konnte.
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