Olaf Scholz kämpft auch um seinen Kanzlertraum
Der deutsche Vizekanzler bewirbt sich als einziges Schwergewicht um den Vorsitz der SPD. Am Samstag wird man wissen, ob das Establishment noch einmal siegt.

Olaf Scholz prägt das Profil der deutschen Sozialdemokratie seit fast 20 Jahren, insofern ist es wenig erstaunlich, dass viele ihn auch für das Gesicht ihres Niedergangs halten. Der 61-Jährige verteidigte 2003/2004 als Generalsekretär Kanzler Gerhard Schröders Agenda-Reformen. Als Arbeits- und Sozialminister unter Angela Merkel rettete er in der Finanzkrise mit dem Kurzarbeitergeld Hunderttausende von Arbeitsplätzen.
Seit 2009 war er stellvertretender Vorsitzender der SPD, sieben Jahre lang regierte er Hamburg, seit 2018 ist er Finanzminister und Vizekanzler, erneut unter Merkel. Scholz' bisherige politische Lebensleistung fällt eindrücklich aus, kein Zweifel. Doch weil er schon so lange in der ersten Reihe seiner Partei steht, kann er nun schlecht behaupten, deren Krise habe mit ihm nichts zu tun. Warum also, fragen seine vielen Kritiker, sollte ausgerechnet er die ersehnte «Erneuerung» verkörpern?
«Du stehst für eine Politik, die wir eigentlich überwinden wollen», sagte ein Jungsozialist Scholz bei einer der SPD-Kandidaten-Shows direkt ins Gesicht. Er «stranguliere» Deutschland mit seiner Obsession eines ausgeglichenen Haushalts, warf ihm Norbert Walter-Borjans vor, der jetzt in der Stichwahl unter den 426'000 Parteimitgliedern zusammen mit Saskia Esken sein Konkurrent ist.
«Du stehst für eine Politik, die wir überwinden wollen», sagt ein Jungsozialist Scholz direkt ins Gesicht.
Vor dem ersten Wahlgang hatte Scholz gemeinsam mit seiner Partnerin Klara Geywitz die Angriffe seiner Verächter noch stoisch über sich ergehen lassen. Doch jetzt, da die Entscheidung bevorsteht, hat er den Kampf überraschend entschlossen aufgenommen. Er, der sonst die Genossen eher belehrt als begeistert, zeigte sich in den öffentlichen Duellen auf einmal angriffig, witzig und schlagfertig. Mehr als einmal demonstrierte er dem Politrentner Walter-Borjans, dass dieser die Regierungsbeschlüsse nicht einmal kannte, die er in Bausch und Bogen verwarf.
Immer wieder beteuerte Scholz, er trete überhaupt nur an, weil ihn der Zustand seiner Partei so bekümmere. Mit Elan versuchte er zu belegen, dass sein Herz seit seiner Juso-Zeit authentisch links schlage. Er führte dazu nicht nur alte Beweise an, sondern auch eine ganze Handvoll neuer Forderungen: eine Vermögenssteuer, ein neues Kindergeld, ein um ein Drittel erhöhter Mindestlohn, Geschlechterparität auf den Wahllisten, eine europäische Sicherung von Bankeinlagen, schärferes Vorgehen gegen Geldwäscherei und Steuervermeidung. Zudem noch die «Bürgerrechte des 21. Jahrhunderts»: Wohnen, Gesundheit, Rente, Pflege.
Selbst beim Koalitionspartner CDU anerkennt man, dass ohne den sachlichen und erfahrenen Scholz zuletzt weder beim Klimapaket noch bei der Grundrente der Durchbruch gelungen wäre. Letztere war für die SPD nichts weniger als ein historischer Triumph. Gleichzeitig betonte der Vizekanzler ohne Unterlass, dass das Regieren mit der Union nach dieser Amtszeit ein Ende haben müsse. Deutschland brauche eine Mitte-links-Regierung ohne CDU/CSU, geführt nicht von den Grünen, sondern von der SPD.
Scholz verwies auf seine Erfolge in der 2-Millionen-Einwohner-Metropole Hamburg. 2009 hatte er die SPD dort in einem ruinösen Zustand übernommen, zwei Jahre später eroberte er die Regierung mit absoluter Mehrheit zurück. «Wer bei mir Führung bestellt, der kriegt die auch!», rief er seinen Genossen zu. Lange bevor man auch anderswo merkte, was Wähler heute von der Sozialdemokratie erwarten, liess er in der Hansestadt Tausende Sozialwohnungen bauen, investierte Milliarden in Schulen, Kitas und den öffentlichen Verkehr. 2015 wurde Scholz' SPD mit 46 Prozent der Stimmen bestätigt.
Der «Scholzomat»
Scholz ist sich bewusst, dass er die vielen Genossen, die in den drei Koalitionen mit den Christdemokraten den Hauptgrund für den Niedergang der SPD sehen, mit solchen Erfolgsgeschichten weder von sich noch von seiner Regierungsbegeisterung überzeugen wird. Für seine Gegner wird er immer der «Scholzomat» bleiben, ein spröder Jurist und Technokrat, der unfähig ist, Hoffnungen und Leidenschaften zu wecken. Und derjenige, der den Linken das Trauma Hartz IV und die Spaltung der Partei mit eingebrockt hat.
Grossen Rückhalt und Respekt geniesst der Mann, der mit der Brandenburger Bildungsministerin Britta Ernst verheiratet ist, hingegen im Establishment: bei den SPD-Regierenden in Bund, Ländern und Städten sowie bei den Abgeordneten der Parlamente. Selbst Martin Schulz, der traurige Kanzlerkandidat von 2017, wirbt neuerdings für ihn. Dabei waren die beiden noch vor wenigen Monaten übel zerstritten.
Sein Kanzlerkalkül
Ausserhalb der Partei ist Scholz erheblich beliebter als unter SPD-Mitgliedern: In den Umfragen rangiert er stets an der Spitze oder auf Platz zwei der Politiker seiner Partei. In der hypothetischen Kanzlerfrage behauptet er sich nicht nur gegen die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, sondern auch gegen den umschwärmten Grünen-Chef Robert Habeck.
Sollte Scholz seinen Kampf um den Vorsitz verlieren, ist seine Karriere zu Ende – und ziemlich schnell wohl auch die Grosse Koalition. Gewinnt er hingegen, dürfte er als Kanzlerkandidat die SPD auch in den Bundestagswahlkampf 2021 führen. Es sind die ersten Wahlen seit 16 Jahren, an denen die Union nicht mehr mit Merkel antritt und deswegen vieles offen scheint. Diese Chance hatte Scholz von allem Anfang an im Auge, als er vor knapp zwei Jahren mit Andrea Nahles zusammen die Partei übernahm. Ein halbes Jahr nach ihrem erzwungenen Rücktritt muss er nun ihr Nachfolger werden, will er ihr beim Abgang von der politischen Bühne nicht folgen.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch