«Ohne Rentner hätten wir eine Wirtschaftskrise»
François Höpflinger (60), Soziologieprofessor an der Uni Zürich und Mitverfasser des «Generationenberichts» des Schweizerischen Nationalfonds, betont die unentgeltlichen Transfers von Alt zu Jung.
baz: Herr Höpflinger, Sie sagen, es gibt keine Generationenkonflikte. Wirklich nicht?
François Höpflinger: Es gibt unterschiedliche Interessen von Jung und Alt oder emotionale Ambivalenzen von Kindern gegenüber dem Altwerden der Eltern. Aber es gibt keine eigentlichen Generationenkonflikte mehr.
Das heisst, die Generationenkonflikte haben in den letzten Jahrzehnten abgenommen?
Eindeutig, und zwar in den letzten 30 bis 40 Jahren. Das hat damit zu tun, dass jede Generation unabhängiger geworden ist, sozial, wirtschaftlich, kulturell. Die Kinder sind bei der Partner- und Berufswahl unabhängiger, die Älteren sind dank der Altersvorsorge finanziell unabhängiger. Die Familienbeziehungen sind dadurch besser geworden. Dazu kommt, dass die älteren Leute toleranter geworden sind gegenüber dem Wandel und dass die Eltern einen positiveren Erziehungsstil pflegen: positiv unterstützen und gewisse Grenzen setzen. Und ausserhalb der Familie treffen die Generationen kaum noch aufeinander, weil die Älteren am Seniorennachmittag sind und die Jungen im Jugendtreff. Es ist eher ein Nebeneinanderher-Leben.
Das tönt etwas trist.
Man muss sich von gewissen sozialromantischen Vorstellungen verabschieden. Der Kontakt zu Gleichaltrigen kann in gewissen Lebensphasen wichtiger sein als derjenige zu anderen Generationen, zum Beispiel in der Pubertät. Zu einem guten Generationenverhältnis gehört auch eine gewisse Trennung. Die Anker-Bilder vermitteln eine heile Welt, die es so nie gegeben hat. Das Nicht-Zusammenleben-Müssen etwa entlastet enorm.
Die Jugendlichen sind angepasster geworden, die Erwachsenen jugendlicher: Ist das auch eine Folge der Alterung der Gesellschaft?
Es hat viel damit zu tun. Man wird älter und bleibt länger gesund und jugendlich. Das führt dazu, dass die Generationendifferenzen nicht mehr so eindeutig sind. Die Jugendlichen haben wenig, wogegen sie rebellieren können.
Sie sagen, in der üblichen finanziellen Generationenbilanz fehlen die privaten unentgeltlichen Dienstleistungen von Alt zu Jung. Ist die Bilanz ausgeglichen, wenn man diese anrechnet?
Nicht ganz und nicht für alle Altersgruppen. Aber sie wäre viel weniger einseitig, wenn man alles einbeziehen würde. Insbesondere die unentgeltliche Betreuung von Kleinkindern durch Grosseltern und die Alterspflege durch Angehörige. Und den Konsum: Wenn die AHV-Rentner ihr Geld ein halbes Jahr im Ausland ausgeben würden, hätten wir die grösste Wirtschaftskrise aller Zeiten.
Sie brechen im «Generationenbericht» mit der Auffassung, dass wir die Sozialwerke nur mit mehr Kindern finanzieren können. Raten Sie gar vom Kinderkriegen ab?
Nein. Aber wir weisen darauf hin, dass es für die heutige Generation ein Schuss ins eigene Bein wäre, wenn sie viele Kinder bekommt. Dann ist sie doppelt belastet, muss nicht nur für die ältere Generation aufkommen, sondern auch noch hohe Kinderkosten tragen. Das gilt natürlich unter der Annahme der heutigen sozialpolitischen Bedingungen. Wenn die Schweiz die Familienpolitik anders organisieren würde, sähe es anders aus.
Sie sprechen von Grosseltern, die ihre Enkel gratis betreuen – für umgerechnet zwei Milliarden Franken pro Jahr. Laut der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (Sake) hat solche Freiwilligenarbeit aber abgenommen.
Man muss aufpassen: Die Sake-Zahl hat sich verändert, weil die Fragestellung verändert wurde. Zurückgegangen ist allerdings die Zahl der verpflichtenden, organisierten Freiwilligenarbeit, etwa für Vereine oder Parteien. In der Familie, unter Freunden oder Nachbarn hat freiwilliges Engagement aber nicht abgenommen.
Erstaunlich ist, dass sechs von zehn zu Hause lebenden über 80-Jährigen von Angehörigen gepflegt werden. Wer von den vielbeschäftigten Schweizern nimmt sich diese Zeit?
Es sind an erster Stelle die Partnerin oder der Partner, dann die Töchter, dann die Söhne. Zu 80 Prozent Frauen, die meisten sind selber über 50. Erwerbstätige Frauen engagieren sich genauso wie Hausfrauen, übergeben aber ihren Männern bestimmte andere Aufgaben. Im internationalen Vergleich sind diese 60 Prozent wenig. Das hängt damit zusammen, dass wir in der Schweiz eine lange Tradition der institutionellen, kommunalen Versorgung von alten Menschen haben. Betreuungslücken entstehen nicht durch mangelndes Engagement der Kinder, sondern weil immer mehr ältere Menschen keine Kinder haben, die sie pflegen können.
Sie fordern eine «Generationenverträglichkeitsprüfung». Was meinen Sie damit?
Das bedeutet, dass man bei politischen Reformvorhaben prüft, was sie für nachkommende Generationen bedeuten. Ähnlich einer Umweltverträglichkeitsprüfung. Das kann bedeuten, dass man statt Alterswohnungen hindernisfreie Wohnungen baut, die später auch von jungen Familien bewohnt werden könnten. Die Generationenverträglichkeitsprüfung war Gegenstand einer vom Parlament überwiesenen Motion, die derzeit beim Bundesamt für Sozialversicherungen hängig ist.
Woran denken Sie bei Ihrer Forderung nach einer Vielzahl von intergenerationellen Initiativen?
Das kann ein Generationenklassenzimmer sein, wo ältere Bezugspersonen die Lehrkraft unterstützen; ein Lern-Parcours, wo Junge Ältere in den Umgang mit Internet oder Billettautomaten einführen; Erzählcafés, wo Junge und Alte einander von ihrer Jugend erzählen – und die Älteren merken, dass die Mehrheit von ihnen heute kriminell wäre, weil vieles, was sie taten, heute strafbar ist. Wichtig ist: Diese Initiativen müssen von unten, im Quartier entstehen, sie können nicht staatlich verordnet werden.
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