Ohne Meer kein Morgen? Auf Flossensuche vor Sizilien
Sich in den Ferien nützlich machen: Bei diesen Forschungsreisen zählen Freiwillige jeglichen Alters Delfine, Wale und Plastikmüll.

Das Wasser ist ein grenzenloser Spiegel. Es tut sich kein Lüftchen. Die Sonne steht schräg über dem Horizont, den wir unaufhörlich mithilfe unserer Augen abtasten. Wir, das sind jeweils drei von uns, im stündlichen Schichtbetrieb. Nur so kann sichergestellt werden, dass wir alles Relevante erspähen. In unserem Fall sind das: Makroplastik, Delfine, Wale. Häufigkeit der Sichtungen in dieser Reihenfolge.
Wir befinden uns im Mittelmeer, am Ionischen Becken, in Siracusa. Das ist jene antike griechische Stadt, der Archimedes entstammt. Hier prägte er den Ausruf Eureka!, als er beim Baden eine Entdeckung machte und daraufhin nackt durch die Strassen der Stadt rannte. Eureka!, das bedeutet: Ich habe es gefunden! Im Gegensatz zu Archimedes interessiert uns das Volumen irregulärer Körper nicht besonders, aber auch wir sind auf der Suche – und vielleicht beschert uns die Nähe zu seiner Heimatstadt Glück.

Müll statt Meerestiere
Die Meeresbiologin Anina, Skipper Bernhard und sechs freiwillige Schweizer Touristen im Alter zwischen 19 und etwas über 60 Jahren befinden sich auf unserem Segelboot. Wir sind hier, weil wir uns für die Forschungsreise der NGO Oceancare (siehe Interview unten) angemeldet haben, um bei der Zählung von Meeressäugetieren zu helfen. Zu diesem Zweck fahren wir eine Woche lang jeden Tag auf das Meer hinaus und spähen gebannt: voller Hoffnung auf eine Sichtung von Flossen oder Fluken – und manchmal mit dem Weltschmerz, der sich einstellt, wenn wir stundenlang nur Müll zu sehen bekommen.
Wir sitzen am Bug, beobachten, halten Ausschau. Alles ist ruhig, wir hören nur den Wind an uns vorbeiziehen. Um die Forschung korrekt zu betreiben, müssen wir auf einem bestimmten Kurs bleiben, in gleichbleibender Geschwindigkeit. Transekt nennt sich das im Fachjargon. Plötzlich tut sich was. Jemand greift hastig zum Feldstecher. Ruft aus: Delfin! Alle fassen ihre Feldstecher. Ein anderer: Ich seh sie auch! Mindestens vier!
Meeresbiologin Anina erinnert diejenige, die das Forschungsblatt auf dem Schoss parkiert hat: Koordinaten aufschreiben, hopp! Während andere ihre Kameras holen und versuchen, die Delfinart zu bestimmen. «Ahhh!», wenn ein Delfin aus dem Wasser springt. Kurs und Geschwindigkeit werden beibehalten, um die Meeressäuger nicht zusätzlich zu stören und ihr natürliches Verhalten zu beobachten.

Bald legt sich die Hektik wieder und weicht dem regelmässigen Ausruf der Freiwilligen, die vorbeiziehenden Abfall erblicken und notieren: Styropor! Plastikfragment! Plastiksack! Halt, was ist das da? Abermaliger Einsatz aller verfügbaren Feldstecher. Das kann nicht sein: Es sieht aus wie ein Abfallcontainer! Jetzt reicht es, den holen wir raus. Bernhard lenkt das Boot steuerbord, wir fahren einmal im Kreis. 20 Minuten später heben acht müde Arme den Container aus dem Wasser.
Wir werden in den kommenden Tagen kein Prozent des Mülls, den wir sehen und dokumentieren, aus dem Meer fischen können. Es ist viel zu viel. Am vierten Tag fahren wir durch eine Ansammlung von Styroporfragmenten, die unmöglich zu zählen ist. Eureka! will bei solch einem Anblick niemand ausrufen. An Tag fünf notiert einer die Sichtung eines Plastikfragments, das sich auf den zweiten Blick als quietschfidele Meeresschildkröte herausstellt.

Die Hoffnung auf ein Klicken
Unsere Argusaugen erhalten Unterstützung durch das Hydrofon, welches Geräusche für uns einfängt, die kilometerweit entfernt sind. Manchmal hören wir die Delfine, bevor wir sie sehen. Und bis zum letzten Moment steht die Hoffnung aller Teilnehmer aufrecht, dieses eigenartige, fast metallene Klicken zu vernehmen. Jenes, das die Präsenz eines Pottwals beweist. Uns wurde die Ehre nicht zuteil. Nichtsdestotrotz: Dass da draussen, im allseits bekannten Mittelmeer, Finn- und Pottwale – notabene die zweit- und drittgrössten Tiere der Erde – unterwegs sind, ist nur wenigen Menschen bewusst.
Wir lernen, dass Pottwale durch ihre Ausscheidungen das Wachstum einer bestimmten Alge begünstigen, die CO2 bindet. Damit helfen diese Wale, die so tief tauchen können wie kein anderes Säugetier, im Kampf gegen den Klimawandel. Wir lernen auch, dass Pottwale oft durch Zusammenstösse mit Frachtern sterben.
Dann sitzt man dort, am Bug, vor einem das weite Meer, das so unschuldig aussieht. Das unschuldig ist. Das Hydrofon überträgt bloss Motorengeräusche. Auf einmal Klarheit: Wir Menschen tun, als müssten wir die Natur schützen, dabei sind wir selbst Teil von ihr. Wie konnte es so weit kommen? Wie werden die Ozeane und Meere in 100 Jahren aussehen, wenn wir nicht sofort handeln? Gibt es überhaupt ein Morgen ohne lebendige Meere?
Interview mit Sigrid Lüber

Frau Lüber, welchen Zweck verfolgen die Forschungsreisen im Mittelmeer?
Oceancare agiert hauptsächlich auf Gesetzgebungsebene, deshalb ist wissenschaftlich untermauerte Arbeit sehr wichtig für uns. Wenn wir etwa Schutzabkommen im Mittelmeer erreichen wollen, müssen wir wissen, wo und in welcher Anzahl die Delfine und Wale vorkommen und wie die Wasserqualität ist. Ein nicht unwichtiges Nebenprodukt ist die Umweltbildung: Die Teilnehmer der Expeditionen sind Ambassadoren und Multiplikatoren, die unsere Arbeit weitertragen.
Sie arbeiten auch in anderen Regionen der Welt, aber das Mittelmeer scheint ein Fokusgebiet zu sein. Weshalb?
Wir unterstützen rund 15 Projekte im Mittelmeer. Dies gibt uns die Möglichkeit, ein ganzheitliches Bild seines Zustands zu schaffen. Es ist ein kleines Meer mit nur zwei engen Zu- und Abflüssen. Dadurch eignet es sich sehr gut, um Rückschlüsse auf andere Meere der Welt zu ziehen. Gleichzeitig ist es geografisch gesehen das nächste Meer zu uns, viele Schweizer machen dort Ferien – aber es ist eben auch ein stark belastetes Meer, durch Schiffsverkehr und starke Zersiedelung in vielen Küstenregionen.
Warum setzt sich ausgerechnet eine NGO aus dem Binnenland Schweiz für den Meeresschutz ein?
Die Schweiz ist das Binnenland mit der grössten Hochseeflotte weltweit. Viele Unternehmen, die im Meer operieren, haben Firmensitze in der Schweiz: etwa die Astra Transcor Schweiz oder die Mediterranean Shipping Company. Zudem ist die Schweiz in allen relevanten internationalen Gremien vertreten – und hat damit eine Stimme. So ist es unsere Pflicht, auch zum Schutz der Ozeane beizutragen.
Sie haben Oceancare vor 30 Jahren mitgegründet. Wie steht es um die Meere im Vergleich zu damals?
Die Gefahren für Delfine und Wale haben zugenommen durch die steigende Mobilität von Menschen und Gütern. Mittlerweile wird das Mittelmeer pro Jahr von 220'000 Handelsschiffen durchkreuzt – das ist enorm. Es ist aber mehr Verständnis geschaffen worden, und die Bedeutung des Meeres für die Menschheit wird verstanden. Das sichtbarste Problem – das Plastik – rüttelt viele Menschen auf. Er nimmt aber auch Aufmerksamkeit weg von anderen Problemen, die mindestens ebenso wichtig sind.
Welche denn?
Unterwasserlärm beispielsweise hat mit dem Klima und dem Plastik zu tun. Einer der grössten Lärmverursacher ist die Ölindustrie: Weil das Öl an Land knapp wird, sucht man jetzt unter Wasser danach. Lärm kann die Fischfangquoten beeinflussen, weil die Schwärme aus lauten Gebieten abziehen oder sterben. Eine Studie belegt, dass ein einziger Schuss aus einer Druckluftkanone im Umkreis von 1,2 Kilometern rund 90 Prozent eines Krillschwarms getötet hat. Wale und Delfine können sterben, weil die Druckwellen Blutungen in lebenswichtigen Organen auslösen. Das geförderte Öl trägt wiederum dazu bei, dass sich das Klima erwärmt. Öl wird verwendet, um Plastik herzustellen.
Oceancare ist UN-Sonderberaterin für Meeresschutz. Was bedeutet das genau?
Unsere Aufgabe ist es, unser Know-how und Wissen in allen relevanten UNO-Konferenzen einzubringen. Dort haben wir dieselbe Redezeit wie Mitgliedsstaaten. Unser Vorteil ist: Wir kommen ganz am Ende an die Reihe und können gewisse Statements der Länder beantworten oder aufgreifen. So müssen wir den Delegierten nicht in den Korridoren hinterherrennen. Der Status ist zudem ein Qualitätsmerkmal und sorgt dafür, dass man uns eher zuhört.
Und was kann jede und jeder privat zum Meeresschutz beitragen?
Den Konsum von Fisch einschränken – auf nicht mehr als eine Fischmahlzeit pro Monat. Wenn man die Überfischung in Betracht zieht, dann ist Fisch ein Luxus, den man sich nicht jeden Tag leistet.
Was würden Sie in 30 Jahren, im Jahr 2049, gerne in der Zeitung lesen?
Dass die Energiewende vollzogen und der Hahn, durch den das Plastik ins Meer gelangt, ganz zugedreht ist.
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