
Nein, es ist nicht die Klassierung, die besorgniserregend ist. Zweitletzter, na und? Es sind erst 6 von 50 Runden gespielt, selbst der Drittplatzierte liegt in der derzeit an Ausgeglichenheit kaum zu übertreffenden Tabelle nur drei Punkte, also einen Sieg, entfernt.
Nein, es sind andere Faktoren, viele andere Faktoren, die in Davos aufrütteln, zu einem Umdenken animieren müssten.
Es ist die Art und Weise der Niederlagen: Wie die Mannschaft nach kleinsten Rückschlägen in Panik gerät, kopflos wird, auseinanderfällt.
Wie sie simpelste Fehler, Todsünden des Eishockeys begeht: Wenn sie in der Vorwärtsbewegung sorglose Scheibenverluste produziert und so auf einfachste Weise in Konter läuft.
Wie Verteidiger bei schnellen Gegenstössen ausgespielt werden, weil sie in Eins-gegen-eins-Duelle gehen, als hätten sie noch nie im Leben Eins-gegen-eins-Duelle bestritten: Checks ins Leere, verlorene Positionen – ein Graus. Fehler, die auch den wenigen Routiniers der Davoser Abwehr unterlaufen: Magnus Nygren, Félicien Du Bois, Lukas Stoop. Es gibt derzeit für die vielen jüngeren Verteidiger keinen Felsen in der Brandung, kein Vorbild, an dem sie sich aufrichten können – auch sie beginnen zu patzen. Ein Teufelskreis.
All das sind aber Normalitäten bei verunsicherten Teams – das findet sich von der NHL bis zur 3. Liga. Doch dann gibt es auch die unverzeihlichen Sachen.
Wie ein Déjà-vu
Es ist eben auch die Disziplinlosigkeit: Wenn Flügelstürmer die Defensivarbeit nur liederlich ausführen, nur im Vorwärtsgang krampfen. Wenn nach sechs Spielen bereits ebenso viele Strafen wegen der neuen Regeln (Bully und Goalie) sowie unkorrekter Spielerwechsel kassiert wurden und sehr boshaft gefragt werden könnte, ob sich der Rekordmeister entschieden hat, dass ihn solche Dinge halt nicht so sehr interessieren.
Es ist die fehlende Lernfähigkeit: Wenn viele dieser Mängel bereits im mit 2:4 verlorenen Playoff-Viertelfinal letzten März gegen Biel offensichtlich waren, der HC Davos nicht nur innerhalb einer Serie, sondern innerhalb einzelner Spiele unfassbare Leistungsschwankungen offenbarte, jegliche Konstanz vermissen liess. Wenn auch jetzt immer noch schöne Tore erzielt werden wollen, Schussabgaben in aussichtsreichen Positionen verweigert werden.
Wenn trotz ausbleibendem Erfolg immer auf dieselbe Weise der Erfolg gesucht wird.
Das Davoser Eishockey, es war jahrelang fantastisch zu schauen, schnell, hart, manchmal auch böse, aber vor allem das: erfolgreich und für die Gegner sehr schwierig zu handeln. Mit seinem Transitionsspiel überrumpelte der HC Davos auch in der Champions League namhafte Gegner wie IFK Helsinki oder Skelleftea.
Erfolgreich in der Offensive, erfolgreich in der Defensive, auch dank einem Jahr für Jahr überragenden Unterzahlspiel. Da liessen sich immer wieder mal Arroganz und Disziplinlosigkeiten verkraften. Ja, das brachte die Gegner umso mehr zum Kochen; Davos war in seiner Blütezeit nicht nur eines der erfolgreichsten, sondern auch eines der unbeliebtesten Teams. Wer gegen den HCD ranmusste, wusste: Das kann heute wehtun. Der HCD war auch das Team, das ligaweit viel Neid generierte, lächerliche Verschwörungstheorien von Bevorzugungen durch Liga und Schiedsrichter machten die Runde.
Diese Zeiten sind vorbei, nur noch eine schöne Erinnerung. Hass und Neid? Mittlerweile gibts höchstens Mitleid.
Denn es ergibt sich ein ganz anderes Bild, wenn der Erfolg ausbleibt. Da wirkt das Davoser Spiel verzweifelt, hilflos, stur. Es sind nicht mehr die Spieler da, die in den Erfolgsjahren das HCD-System vergoldeten. Sie sind, gerade in der Abwehr, spielerisch limitierter geworden. Da wirkt das bedingungslos schnelle Umschaltspiel nicht mehr furchteinflössend, sondern chaotisch. Und da werden Disziplinlosigkeiten plötzlich zum grossen Problem, wenn sonst schon nicht mehr viel funktioniert.
Statistiken des Grauens
Davos hat derzeit statistisch ligaweit die zweitschlechteste Offensive, die schlechteste Defensive, das schlechteste Powerplay, das schlechteste Boxplay, den drittschlechtesten Torhüter – und der benötigt auch noch eine Ausländerlizenz. Doch bevor nun der Stab allzu sehr über Anders Lindbäck gebrochen wird, muss trotz einigen haltbar scheinenden Gegentoren auch das berücksichtigt werden: Der Schwede verhinderte beim Saisonauftakt in Lugano (1:3) eine mögliche Kanterniederlage, er klaute in Zug beim 2:1 (bei 17:42 Schüssen!) eigenhändig die drei Punkte, beim anderen Sieg (2:0 gegen Schlusslicht Rapperswil-Jona) sorgte er dafür, dass zwei Törchen reichten.
Und der HCD lässt nicht nur am zweitmeisten Torschüsse aller NL-Teams zu. Er lässt sie vor allem aus delikaten Positionen zu, wie zuletzt gegen Fribourg. Irgendwann wird es da zur Makulatur, wer im Tor steht. Mit durchwegs mittelmässigen Goalieleistungen würde Davos mit bloss drei Punkten dastehen. Wer Lindbäck als Schuldigen präsentieren will, betreibt simpelsten Populismus.
Der HCD lässt viele gegnerische Torschüsse aus sehr delikaten Positionen zu, wie der offizielle Shot-Chart am Beispiel des Fribourg-Spiels zeigt:
Probleme mit den Imports
Die Davoser Ausländersituation lädt aber grundsätzlich zum Kopfschütteln ein, nicht bloss wegen Lindbäck. Da ist der nach zwei Hüftoperationen und einem Jahr Verletzungspause zurückgekehrte Center Perttu Lindgren. Der Finne, vor zwei Jahren noch zum Liga-MVP gekürt, ist ein Schatten seiner selbst, was angesichts seiner letzten zwölf harten Monate nichts als logisch ist.
Lindgren, einer der besten Spielmacher und komplettesten Stürmer der Liga, liesse sich in dieser Verfassung von einer erfolgreichen Mannschaft problemlos «mitschleppen», doch nun, da er in der Krise einer der Leader sein sollte, ist der Finne eine weitere Bürde mit Ausländerlizenz. Bereits überlegt man sich in Davos, ihm eine Pause zu gewähren und ein Spezial-Aufbautraining zu organisieren. Es wäre nicht das Dümmste.
Doch damit ergibt sich ein weiterer Teufelskreis: Lindgren braucht nach der langen Pause unbedingt Spielpraxis, und der HCD ist in arger Center-Not, da mit Sami Sandell ein weiterer ausländischer Mittelstürmer ebenfalls angeschlagen ist und weiterhin auf sein NL-Debüt wartet. Routinier und Captain Andres Ambühl wechselte auch darum bislang munter zwischen allen drei Feldspielerpositionen Center-Flügel-Verteidiger hin und her, all das illustriert auch das Chaotische, das den HCD derzeit umgibt.
Und Davos ist drauf und dran, Anton Rödin zurückzuholen. Rödin, der den HCD kurz vor Saisonbeginn verliess, um es noch einmal in der NHL zu versuchen. Der Schwede hätte das Potenzial für die beste Eishockeyliga, scheiterte nun aber im Camp der Anaheim Ducks. Dennoch: Rödin ist Flügel und nicht Center. Und vor allem: Auch er ist verletzungsanfällig. Und das Interesse an ihm zeigt, dass Davos bereits früh mit seiner Ausländersituation unzufrieden ist.
Wenn es nicht läuft, sind halt immer die Ausländer schuld: Lindbäck, der zu wenig Pucks hält, Neuzugang Shane Prince, der zu selten ins Tor trifft. Doch das ist gang und gäbe im Schweizer Eishockey und sicher keine Davoser Spezialität … Bloss: Mit Ambühl, Dino und Marc Wieser warten auch drei Schweizer Leistungsträger im Sturm auf ihre ersten Saisontore.
Und jetzt die gute Nachricht
Es gibt aber auch eine gute Nachricht für Davos: All das sind Versäumnisse, die behebbar sind. Wenn das Selbstvertrauen zurückkommt, in kleinen Schritten. Da braucht es oft nicht einmal sonderlich viel. Wenn, und das wird schwieriger, das Umdenken vollzogen ist, dass der HC Davos keine Spitzenmannschaft mehr ist, ja, dass er selbst um das Playoff kämpfen werden muss, wie er es in seiner beeindruckenden Rekordserie von 25 Teilnahmen seit 1994 wohl noch nie hat tun müssen.
Die ganz grosse Frage aber ist: Ist dieser HCD für einen Überlebenskampf bereit? Es scheint eher, als sei in Davos noch immer in Club und Mannschaft der Glaube tief verankert, ein Spitzenteam, ein Titelanwärter zu sein. Wir sind Rekordmeister! Und Arno wirds richten!
Nein, Arno Del Curto, der ewige Trainer des HCD, seit 1996 im Amt, wird es nicht richten diesmal. Nicht allein. Es braucht zwar auch bei ihm das Umdenken, den Willen, das Davoser Spiel anzupassen an die aktuelle Situation. Solange das Team im Schlamassel steckt, braucht es auch das vom Trainer verabscheute simple, aus seiner Sicht «hässliche» Eishockey: mit Abwarten, mit Scheibenkontrolle, auf Sicherheit bedacht. Das Eishockey, bei dem er selbst den Fernseher nach einer Minute wieder abstellt. Zu Recht. Bloss: Nur das bringt Stabilität und Selbstvertrauen zurück, diese Kröte muss geschluckt werden.
Es braucht aber auch das Umdenken im Team. Die Worte, dass nun alles anders werden müsse, wurden zur Genüge gesagt, so gesehen, war das 2:5 gegen Fribourg mit 0:4-Rückstand bei Spielhälfte, das auf das 0:7 gegen Langnau folgte, eine Bankrotterklärung. Nichts wurde anders, immer noch verfiel der HCD in Panik, als es ihm plötzlich nicht nach Wunsch lief. Dass sich die Mannschaft nach der Partie ohne Trainer in der Kabine aussprach, ist als gutes Zeichen, als erster Schritt zu deuten.
Servette als Vorbild
Es braucht Demut, das Zugeständnis, kein Meisterteam mehr zu sein, und dementsprechend aufzutreten. Was es nicht braucht, sind Ausreden. Die vom Präsidenten angezogene Finanzschraube, die für die starke Verjüngung der Mannschaft gesorgt hat, wäre eine. Und auch die Ausländersituation liesse sich ideal zum Jammern verleiten.
Bloss: Genf-Servette, auf dem Papier einer der Hauptkonkurrenten der Davoser um Platz 8, kämpft sich wegen Verletzungspech schon seit mehreren Spielen ohne einen einzigen ausländischen Stürmer mit defensiver Disziplin von Mini-Sieg zu Mini-Sieg. Genf, aktuell auf fast allen Positionen eines der am dünnsten besetzten Teams, ist defensiv statistisch eine der besten Mannschaften. Es ist möglich.
Doch Davos tut gut daran, schon bald als neues, geläutertes Team aufzutreten. Arrogant zu verweisen auf die frühe Saison, dass noch gar nichts entschieden ist, dass noch alles besser wird, was die Kritik überhaupt solle, all das ist fehl am Platz. Dafür bleibt dann noch rückblickend Zeit, wenn sich alles zum Guten gewendet haben sollte …
Denn der HC Davos, Ausgabe 2018/19, hat in der Theorie nach wie vor sehr vieles, um positiv überraschen zu können: jugendliche Frische und Unbekümmertheit, Tempo, offensive Brillanz und einen Trainer, der auch noch mit 62 Jahrenund der entsprechend grösseren «Altersmilde» immer noch fähig ist, sich selbst neu zu erfinden und über den «positiven Wahnsinn» verfügt, um den Turnaround zu schaffen.
Doch zu einem ist dieser HC Davos als Ganzes ganz sicher nicht geschaffen: einem langen Existenzkampf am Tabellenende, zu dem in seiner Konsequenz auch ein hässliches Wort gehört, das man in Davos nur vom Hörensagen kennt: Abstiegskampf.
In der Rubrik «Crosscheck» äussert sich die Eishockey-Redaktion von Tamedia regelmässig zu Themen der schnellsten Mannschaftssportart der Welt.
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Nein, Arno wird es diesmal nicht richten
Der Rekordmeister Davos findet nur dann aus der Krise, wenn er seine neue Identität akzeptiert. Das ist einfacher gesagt als getan.