
Ende Juni war ich in der Schweiz, um den «Literaturclub» aufzuzeichnen. Da ich aus Belgien und Deutschland kam, wo seit Monaten in öffentlichen Verkehrsmitteln absolute Maskenpflicht herrscht, vergass ich, meine Maske in Basel auszuziehen. Erst als ich in Zürich ausstieg und in den Augen der Passanten Panik sah, merkte ich es: Ich war der Einzige, der maskiert war. Ich musste auf die Leute wie ein Verbrecher oder ein Schwerkranker gewirkt haben. Jedenfalls jemand, dem man besser aus dem Weg geht.
Als ich vor zwei Wochen erneut in die Schweiz kam, freute ich mich schon darauf, frei zu atmen. Aber nun trugen in den Zügen und Bussen alle ohne Ausnahme eine Maske. Als ich ins Postauto an den Walensee stieg – mein Bruder hat in Quinten ein Häuschen mit Boot –, vergass ich in der Ferieneuphorie meine Maske. Der Chauffeur weigerte sich loszufahren, mehrere Passagiere wandten sich demonstrativ von mir ab. Während ich unterwürfig grinsend in meiner Tasche nestelte, sah ich in ihren Augen wieder diese mit Genervtheit angereicherte Panik, dieses archaische Herdengefühl.
Zuerst totale Maskenlosigkeit, dann absoluter Maskenzwang: Geht es um Leben und Tod, dann können im Lauf weniger Wochen zwei sich diametral widersprechende Theorien obsiegen – ohne dass irgendwelche neue Fakten aufgetaucht wären. Das ist erst mal eine gute Nachricht, weil sie – wie viele Reaktionen auf Corona – zeigt, dass wir als Gemeinschaft handlungsfähig sind. Wer hätte nach 60 Jahren neoliberalem «Jeder ist sich selbst der Nächste» gedacht, dass wir, gleichsam über Nacht, solidarisch handeln können?
Graue Selbstbeherrschung und plötzlich ausbrechende Übergriffigkeit bilden das monotone Drama des gemeinschaftlichen Handelns.
Schlecht ist die Nachricht natürlich, weil wir Schweizer eben doch nicht so selbstlos sind. Freiwilliges Maskentragen funktionierte hierzulande nicht, weil die Maske den Nebenmann, nicht den Träger schützt: Nächstenliebe geht nur mit Zwang. Oder anders ausgedrückt: Ein Kollektiv in der Schweiz des 21. Jahrhunderts ist keine idealistische Masse, sondern eine Menge von Individuen, die sich letztlich aus Eigennutz zusammenschliessen. Und das funktioniert natürlich nur, wenn dem einen, der aus der Reihe tanzt, mindestens momentweise die moralische Vernichtung blüht. Warum sollten alle hinter ihrer Maske schwitzen, wenn einer frei atmen kann?
Die Frage ist also: Kann es so etwas wie aufgeklärte Kollektivität geben? Einen lockeren, grosszügigen, vielleicht sogar selbstironischen Herdentrieb? Vermutlich nicht. Graue Selbstbeherrschung und plötzlich ausbrechende Übergriffigkeit bilden das monotone Drama des gemeinschaftlichen Handelns. Jeder spielt darin seine Rolle: als verbitterter Blockwart, der den Maskenzwang wenn nötig handgreiflich durchsetzt – oder als paranoider Hobby-Sokrates, der alle Entscheidungen, die nicht von ihm selbst kommen, als Lügen internationaler Lobbys geisselt.
Die allermeisten aber sind wohl wie ich: Sie tun fast alles, egal wie widersprüchlich – nur um in Ruhe gelassen zu werden. Und vielleicht ist das die beunruhigendste Erkenntnis.
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Kolumne Milo Rau – Nächstenliebe geht nur mit Zwang
So selbstlos sind wir Schweizerinnen und Schweizer nicht: Wir tragen die Maske nur, weil wir müssen – und nicht, um unsere Nachbarn zu schützen.