Nadelöhr der Menschheitsgeschichte
In der Steinzeit lebten in Europa zeitweise lediglich wenige Tausend Menschen. Nur dank eines erstaunlichen Netzwerks konnte der Homo sapiens überleben.

Der Homo sapiens hatte Glück, es war einige Male sehr knapp. Viele seiner Verwandten sind längst von der Bildfläche verschwunden: der Homo erectus etwa oder der Neandertaler. Aber der anatomisch moderne Mensch hat überlebt. Und das, obwohl seit seinem Auftreten vor 300 000 Jahren immer wieder nur verschwindend wenige seiner Art die Erde bevölkerten. Eine Studie zeigt nun, wie nah das Aussterben auch für den Homo sapiens einst war: Vor rund 40 000 Jahren lebten demnach in ganz Mittel- und Westeuropa nur etwa 1500 Menschen – noch weit weniger als bislang angenommen.
Um herauszufinden, wie sich der Mensch auf dem Planeten ausbreitete, erstellen Forscher in jüngster Zeit immer genauere Populationsanalysen. Genetiker und Archäologen arbeiten zusammen, um zu begreifen, welche Faktoren eine Art in einer bestimmten Umgebung erfolgreich machten und welche zum Scheitern führten. «Viele Populationsschätzungen zeigen ein wiederholtes regionales Aussterben und zahlreiche Ungleichgewichte in der Verteilung von Populationen», sagt Isabell Schmidt vom Institut für prähistorische Archäologie der Universität Köln, Leitautorin der aktuellen Studie im Wissenschaftsmagazin «Plos One». Gemeinsam mit ihrem Kollegen Andreas Zimmermann entwirft sie darin ein detailliertes Bild der Besiedlung Europas – mit überraschenden Zahlen.
Die ersten modernen Menschen wanderten vor rund 45 000 Jahren entlang der Donau in Mitteleuropa ein. Kurz darauf gab es dann eine erste kulturelle Explosion, wie etwa die Funde von der Schwäbischen Alb zeigen: Die Menschen begannen zu malen, schnitzten faszinierende Figuren aus Elfenbein, bauten Flöten und machten Musik. Es klingt nach einer ungetrübten Erfolgsgeschichte. Doch stimmt dieses Bild?
Neuer Ansatz
Schmidt und Zimmermann haben umfangreiche Daten von Fundstellen in ganz Europa gesammelt. Sie suchten grossräumig nach möglichen Kerngebieten der Besiedlung in der Zeit des sogenannten Aurignaciens vor 42 000 bis 33 000 Jahren. In ihrer Analyse verbanden die Archäologen gezielt regionale mit sehr grossräumigen Daten, ein neu entwickelter Ansatz. Aus sogenannten ethnografischen Analysen, also vor allem dem Vergleich mit heutigen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, ergibt sich eine durchschnittliche Gruppengrösse von etwa 40 Personen.
Daraus errechneten die Forscher um Schmidt die absolute Anzahl der Menschen. So ergab sich ein Wert von etwa 1500 Personen, mit einer Untergrenze von 800 und einer Obergrenze von 3300. Nicht eben viel für Mittel- und Westeuropa – so viele Menschen werden heute in sechs Minuten weltweit geboren.
Die grösste Gruppe lebte in französischen Höhlen
Nur in fünf Regionen gab es überhaupt eine dauerhaft überlebensfähige Population von 150 Personen oder mehr: in Nordspanien, Südwestfrankreich, Belgien, in Teilen Tschechiens und im Tal der Ur-Donau in der Schwäbischen Alb. Im Südwesten Frankreichs mit seinen Karsthöhlen lebte dabei mit 440 Personen die grösste Gruppe. Die Zentren lagen rund 400 Kilometer voneinander entfernt, dazwischen lagen grosse Landschaftsräume, die nur kurzfristig, saisonal oder gar nicht besiedelt waren. Das sei ein europaweit einheitliches Muster, schreiben die Forscher.
Offenbar waren die Zentren miteinander vernetzt, wie etwa Analysen von mitgeführten Steinartefakten oder Feuerstein-Rohmaterial zeigen, aus dem die Menschen dann Klingen, Spitzen oder Schaber herstellten. Die jeweiligen Gruppen nutzten trotz der grossen Distanzen ähnliche soziale und wirtschaftliche Strategien, um unter den eiszeitlichen Klimabedingungen zu überleben.

Neben den Kernregionen gab es Gegenden, in denen sich wohl kleine Einzelgruppen von etwa 40 Personen aufhielten. Diese wären für sich genommen nicht überlebensfähig gewesen. Diese Regionen lagen im Schnitt etwa 200 Kilometer von den Hauptzentren entfernt und wurden wohl nur während bestimmter Jahreszeiten aufgesucht. So passten sich die Menschen langsam an verschiedene Lebensräume an. Diese Strategie ermöglichte es gemäss den Forschern trotz der extrem geringen Bevölkerungsdichte, Europa erfolgreich zu besiedeln.
Gruppengrösse von 150 Menschen ist optimal
Auch wenn regionale Populationen wiederholt ausstarben, sei dieses System durch die hohe Mobilität, flexible Anpassung an unterschiedliche Naturräume sowie die Leerräume sehr resilient, sagt Schmidt. «Vieles deutet darauf hin, dass die menschliche Besiedlung nicht ausschliesslich Umwelteinflüssen, sondern auch soziokulturellen Mustern folgt.» Entscheidend für den Erfolg war also die Art, Intensität und Beständigkeit der Vernetzung über grosse Distanzen.
Besonders interessant sind dabei die Gruppengrössen der Kernregionen. Der britische Psychologe Robert Dunbar hatte bereits früher darauf hingewiesen, dass Wildbeuter in Gruppen von maximal 150 Menschen zusammenlebten. Seine Vermutung: Unser Gehirn, speziell die Grosshirnrinde, setzt Grenzen hinsichtlich der Zahl von Individuen, mit denen ein Einzelner soziale Kontakte pflegen kann. Die Dunbar-Zahl schwankt zwischen 100 und 250 – und scheint auch für moderne soziale Netzwerke zu gelten.
Nur in fünf Regionen gab es eine dauerhaft überlebensfähige Population.
In Europa nahm in der auf das Aurignacien folgenden Epoche des sogenannten Gravettien die Bevölkerungszahl auf rund 2500 Personen zu, die Zahl der überlebensfähigen Kernregionen stieg dabei von fünf auf neun. Das Netzwerk wurde grösser und weiter verzweigt, die Abstände zwischen den Kernregionen blieben aber weiter bei rund 400 Kilometern. Erst gegen Ende des Gravettien vor rund 27 000 Jahren ist dieses Netzwerk aufgrund von Klimaänderungen zusammengebrochen, sagt Schmidt. «Wir sehen ein regionales Aussterben von Populationen und den Beginn einer Neuorganisation.» Die alten Strukturen brachen zusammen, und neue Netzwerke tauchten auf.
Für eines der dramatischsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte gibt es solche detaillierten Analysen der weltweiten Bevölkerung noch nicht. Manche Forscher glauben, dass die Menschheit vor rund 74 000 Jahren kurz vor der Auslöschung stand, als im nördlichen Bergland von Sumatra der Vulkan Toba ausbrach.
Maximal 10 000 Menschen überlebten Vulkanausbruch
Die vermutlich stärkste Eruption der vergangenen zwei Millionen Jahre könnte zumindest auf der Nordhalbkugel die Erde drastisch abgekühlt haben. Populationsgenetiker schätzen, dass damals weltweit maximal 10 000 Menschen überlebt hatten, vielleicht waren es sogar nur noch 2800 Individuen.
Umstritten ist aber nach wie vor, ob der Vulkan in allen Regionen der Grund für das Beinahe-Aussterben war. Forscher wie Eugene Smith von der Universität von Nevada haben einzelne Fundstätten wie Pinnacle Point in Südafrika untersucht. Smith fand zwar Spuren des Vulkanausbruchs, wie er im vergangenen Jahr in «Nature» schrieb, aber keine Veränderungen in der Population durch den Vulkan. Vielleicht war aber Südafrika nur das letzte Refugium der Menschheit – und die Katastrophe fand auf der Nordhalbkugel statt.
Der definitive Aufstieg des Menschen an die Spitze der Nahrungskette begann erst vor 11 000 Jahren mit dem Sesshaftwerden, mit dem Aufkommen von Vorratshaltung und Tauschnetzwerken. Seit damals nimmt die menschliche Bevölkerung immer schneller zu. Derzeit leben rund 7,6 Milliarden Menschen auf der Erde. Und jedes Jahr werden es etwa 78 Millionen mehr.
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