Müssen wir Chinesen werden?
Liberalismus-Prophet Francis Fukuyama besuchte die Schweiz – und wurde nachdenklich.

Das Jahr 1992: Die UdSSR hat den letzten Ächzer gemacht, McDonald's gibts nun auch in Polen, und die amerikanische Basketball-Nati um Michael Jordan und Magic Johnson erscheint uns als Allegorie: Leichtfüssige Weltbeherrschung, an American Dream comes true.
Das «Dream Team» von 1992.
1992 ist auch das Jahr, in dem Francis Fukuyama «The End of History and the Last Man» veröffentlicht. Der US-Amerikaner hatte bis dahin ein Plätzchen im Bürokratie-Apparat des Kalten Krieges, war ein stiller Beobachter der sowjetischen Politik.
In «The End of History» erklärt der Politologe nun: Die liberale Gesellschaft des Westens – Demokratie und freie Marktwirtschaft und Konsumkultur – habe sich als höchste, beste Form der Zivilisation erwiesen. Sie sei allen anderen Systemen überlegen und vorzuziehen. Dass Fukuyama dialektisch argumentiert, verleiht dem Buch eine neckische Note. Dialektik ist ja die liebste Denkbewegung der Sozialisten, im Dreischritt gehts der Morgenröte der kommunistischen Utopie entgegen. So zumindest die Theorie.
Fukuyamas These findet den Weg aus dem akademischen Magazin in die Massenmedien. «The End of History» ist das Buch des Jahres 1992, auf Buchseiten materialisierter Zeitgeist (Hegel zum Zweiten). Seine ideengeschichtliche Herleitung verplumpt nun allerdings zur Brachialbehauptung: Der Liberalismus habe ein für alle mal gesiegt, werde sich nun automatisch überall durchsetzen. So die vereinfachte Version seiner These. Und so mutiert der scheue Denker nicht ganz freiwillig zum Propheten eines vorlauten Neoliberalismus.
Als erst die Twin Towers einstürzen und später die Finanzkrise ausbricht, kollabiert auch die Trivialversion der Fukuyama-These. Ende der Geschichte? Sieg des Liberalismus? Von wegen. Der Spott ist gross. Noch heute wird Francis Fukuyama jede Woche darauf angesprochen. Er antwortet jeweils mit ausgesuchter Höflichkeit.
Wie ein Zenmeister
Zürich 2018, letzte Novemberwoche. Fukuyama wurde vom Schweizerischen Institut für Auslandsforschung SIAF eingeladen. Das SIAF, getragen von einem Dutzend Grossunternehmen, holt regelmässig Denker und Politiker in die Stadt, mit Vorliebe aus dem wirtschaftsliberalen oder konservativen Spektrum. Fukuyama wird gleich in der Aula des Gymnasiums Rämibühl sprechen, für die Schülerinnen und Schüler sind die 90er ein fernes Jahrzehnt.

Fukuyama hat etwas Zenmeisterhaftes. Kleiner Wuchs, leise Stimme, schmale Augen. Im kurzen Einzelgespräch vor der Rede wirkt er demütig. Nein, mit der Sozialdemokratie habe er kein Problem. Ja, es brauche mehr Umverteilung in den USA. Nein, er sei nie ein Neoliberaler gewesen. Ja, er würde lieber Bernie Sanders als Donald Trump zum Präsidenten haben. Aber, fügt Fukuyama an, eine gute Option sei keiner von beiden. «Sanders' Pläne sind nicht finanzierbar.» Und der 66-jährige Professor gibt offen zu, dass die frühen 90er Jahre des Überschwangs waren: «1992 war die Vorstellung, die Welt könne zurückfallen in frühere, schlimmere Zustände, sehr weit weg. Man dachte nicht wirklich darüber nach.»
Als Francis Fukuyama zu den Schülern spricht, geht es nur am Rand um sein neues Buch, das um den Begriff der «Identität» und dessen Bedeutung für die Politik kreist. Der Dozent der Universität Stanford gibt Einblicke in seine Gelehrtenbiografie, erzählt vom grossen Einfluss, den der französisch-russische Hegelexperte Alexandre Kojève auf ihn gehabt habe. Kojève hatte seine eigene Theorie vom «Ende der Geschichte» entwickelt, datierte jenes ominöse Ende aufs Jahr 1806, als Napoleon bei Jena die Truppen des monarchischen Preussen erledigte.
Präzise Schülerfragen
Schliesslich die Fragen der Gymischüler. Hier streckt ein Bleichgesicht den Finger, dort verlangt ein Hoodieträger nach einem Mikrofon. Ihr Englisch ist exzellent, ihre Fragen sind präzis. Die Vertreter der US-Botschaft sollten dieser erfreulichen Fragerunde leider ein allzu rüdes Ende bereiten, indem sie auf die Einhaltung ihre Zeitplans pochten. Fukuyama selber machte nicht den Eindruck, als hätten ihn weitere Fragen gestört.
Einer der Schüler fragt, ob die liberale Demokratie in jedem Fall für jedes Land die beste Wahl sei. Einige Konkurrenzmodelle des Liberalismus hatte Fukuyama schon während des Referats aus dem Weg geräumt. Das Putin-Modell? «Russlands Wirtschaft ist abhängig vom Öl- und Gas-Export.» Die islamische Theokratie? «Auf diese Weise wollen freiwillig nur ganz wenige Menschen leben.» Doch nun, mit der Schülerfrage, ist er wieder im Raum, gross und unübersehbar: der chinesische Drache.

Fukuyama, dessen japanischer Grossvater vor der Rekrutierung in die USA floh, referiert mit stoischer Miene. Doch wenn er auf China zu sprechen kommt, ist ihm die Verblüffung anzusehen. Die Chinesen seien auf dem Weg in eine Mittelstandsgesellschaft, stellt er fest. Korea, Japan und Taiwan seien nach Erreichen dieses wirtschaftlichen Entwicklungsgrads längst auf den Weg zur liberalen Demokratie eingebogen. Die chinesische Gesellschaft hingegen entwickle sich anders.
Wohlstand und Freiheit
Für Fukuyama ist klar: Wenn sich das totalitäre Modell der Chinesen durchsetzt gegenüber den westlichen Demokratien, wenn dieses System freiwillig von anderen Ländern übernommen wird – dann ist seine Meisterthese vom westlichen Liberalismus als bestmögliche Lebensform definitiv gescheitert. Fukuyama bezweifelt zwar, dass sich das chinesische Regime halten kann, wenn der Wirtschaftsboom einmal abflaut. Und die Legitimität des Regimes in Peking sei fragiler als jene der demokratischen Regierungen, die von der Bevölkerung bestätigt werden. Deshalb müsse China nun zunehmend mit dem Nationalismus zündeln. Ein eigentliches Scheitern der Kommunistischen Partei kann Fukuyama bis heute aber nicht feststellen.
Könnte es sein, dass der Mensch den Wohlstand letztlich der Freiheit vorzieht? Wird sich das chinesische Modell durchsetzen? Eine Prognose wagt Francis Fukuyama nicht, nicht mehr.
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