Moutier, hiergeblieben
Das bernjurassische Moutier darf nicht zum Kanton Jura wechseln – die Volksabstimmung vom Juni 2017 wurde wegen «gewichtiger Mängel» für ungültig erklärt.

Die Front, die einen heftigen Luftstoss in die Kleinstadt Moutier brachte und die Glut der Jura-Frage wieder anfachte, kommt aus Bern. Kurz vor halb 10 Uhr erklärte gestern Morgen Stéphanie Niederhauser, Regierungsstatthalterin des Verwaltungskreises Berner Jura, die Volksabstimmung über den Kantonswechsel vom 18. Juni 2017 für ungültig. In ihrem Urteil rügt sie «gewichtige Mängel» des Urnengangs. Sechs von sieben Einsprachen heisst sie gut. Der Wechsel Moutiers vom Kanton Bern in den Kanton Jura, für den sich die Einwohner mit nur 137 Stimmen Unterschied aussprachen, ist somit nicht rechtskräftig. Und die Jura-Frage, die Moutier seit nunmehr 40 Jahren beschäftigt, bleibt.
Niederhauser geht mit den mehrheitlich projurassischen Stadtbehörden von Moutier und dem Bürgermeister Marcel Winistoerfer (CVP) hart ins Gericht: Sie hätten die Stimmberechtigten im Abstimmungskampf in unzulässiger Weise beeinflusst. Zwar hätten Behörden das Recht, die Stimmberechtigten zu informieren. Dies habe aber auf objektive, transparente und verhältnismässige Weise zu erfolgen. In den Medien war auch von «Stimmenfängerinnen im Minijupe» zu lesen, die für ein Ja ein Nachtessen angeboten haben sollen, von «zwei Sixpack Bier für den Wechsel zum Kanton Jura» und immer wieder von «Abstimmungstourismus». Die Statthalterin hat deshalb Listen mit Personen erstellt, die in Moutier abgestimmt haben, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit dort nicht ihren rechtmässigen Wohnsitz hatten. Das Ergebnis: 19 Personen hatten ihren Steuerwohnsitz andernorts, und bei 35 besteht der Verdacht auf einen temporären Scheinwohnsitz.
Allein gegen Bund und Bern
Im Hôtel de la Gare haben sich Projurassier schon am Morgen früh versammelt. Auch Jean-Rémy Chalverat ist da, 1986 wurde er der erste separatistische Bürgermeister Moutiers. Seither kämpft er für den Kantonswechsel seiner Stadt. Die Annullierung sei «Ironie ersten Grades», sagt er, wie viele Projurassier ist er ungläubig, konsterniert, in Aufruhr. «Die Abstimmung in Moutier war die wohl am besten kontrollierte Abstimmung der ganzen Schweiz. Annulliert man sie, müsste man alle Abstimmungen annullieren», sagt Chalverat. Er fühlt sich vom Kanton Bern nicht ernst genommen und hintergangen «wie nie zuvor».
Noch deutlicher wird Pierre-André Comte, Generalsekretär des Mouvement autonomiste jurassien (MAJ). Das sei eine «Schmach», eine «Schande», die der Kanton Bern ihnen nun seit 40 Jahren antue. Comte sieht sich mit seinen Anhängern allein gegenüber einer breiten, geeinten Front von Bernern, die gegen ihr Anliegen kämpfen. Zu dieser Front zählt er auch den Bund. Dieser schaue «mit grosser Genugtuung» zu, wie die Berner Behörden gegen sie vorgingen. «Die Leute hier in Moutier sind verärgert. Man hat ihnen einen Sieg weggenommen», sagt Comte.
Bundesrätin Simonetta Sommaruga mahnte zur Ruhe: Sie hoffe, dass der Entscheid mit Fassung aufgenommen werde, teilte das Bundesamt für Justiz mit. Die Justizministerin wies auch darauf hin, dass der Entscheid noch nicht endgültig sei. Wie es sich in einem Rechtsstaat gehöre, könne dagegen Beschwerde beim Verwaltungsgericht und gegebenenfalls beim Bundesgericht erhoben werden.
«Die Schweizer Demokratie hat gezeigt, dass sie funktioniert.»
Derweil bedauerte der Berner Regierungsrat in einer Mitteilung, dass es trotz zahlreicher Vorkehrungen «Unregelmässigkeiten und undemokratisches Verhalten» gegeben habe. Die Regierung will nun nicht weiter über einen Wechsel von Moutier verhandeln. Zunächst sei die Justiz am Zug, betonte der Regierungsrat. Mit der jurassischen Regierung will er «den Dialog im Sinne der freundeidgenössischen Grundsätze fortsetzen».
Wie grundlegend Moutier aber in zwei Lager gespalten ist, zeigt sich im Hotel du Cheval blanc. Es ist die Siegesstätte der Proberner, die feiern: Ihre Einsprachen wurden gutgeheissen. Im Gegensatz zu den Jurassiern, die sich ungerecht und undemokratisch behandelt fühlen, sehen sie sich bestätigt. SVP-Stadtrat Patrick Tobler sagt: «Die Schweizer Demokratie hat gezeigt, dass sie funktioniert.»
Am Stammtisch begiessen schon vor 11 Uhr die ersten unter ihnen den Sieg mit Rosé. «Eigentlich hätte man die Abstimmung bereits am 18. Juni 2017 annullieren können», sagt SVP-Stadtrat Jean-Bernard Blaser. Wenn das Stimmregister erst einen Tag statt wie erforderlich sechs Tage im Voraus abgegeben werde, sei doch klar, dass da etwas nicht stimme. Und doch merkt auch er, dass die erneut aufgeflammte Jura-Frage sich schlecht auswirkt: «Die Abstimmung hat einen gewissen Hass zurück nach Moutier gebracht.»
«Moutier wird gespalten bleiben»
In einem Punkt sind sich die beiden Lager einig. Darin nämlich, dass sie sich nicht einig sind. «Heute wurde die Spaltung Moutiers nochmals verstärkt», sagt Projurassierin Pauline Roos-Laporte. Und auch SVP-Stadtrat Tobler findet, das Klima habe sich seit der Abstimmung im Sommer 2017 verschlechtert, der gestrige Entscheid den «Graben erneut aufgerissen». Moutier werde «noch jahrzehntelang tief gespalten bleiben».
Beide Lager sind entschlossen, so lange für ihre Sache zu kämpfen. Bis vor Bundesgericht. «Moutier wird jurassisch sein», ist sich Comte sicher. Ob das stimmt, ist heute so offen, wie es das vor 40 Jahren schon war. Bis darüber Klarheit herrscht, in letzter Instanz nach einem Bundesgerichtsentscheid, dürfte es bis 2030 dauern.
In der tief gespaltenen Kleinstadt ist es ruhig geblieben. Vorerst: Die projurassische Organisation Moutier Ville Jurassienne ruft für kommenden Freitag zu einer Kundgebung in Moutier auf. Und auch in Bern wollen die Jurassier ihren Unmut in einer grossen Demonstration kundtun. Wann diese genau stattfinden wird, ist noch nicht bekannt.
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