Moskau reagiert auf «antirussische Hysterie»
Tausende protestierten in Georgien gegen den Einfluss Russlands. Jetzt sind Flüge in das Nachbarland verboten.

Ilja Kusikaschwili wirbt auf seiner Website mit dampfenden Schaschlik-Spiessen und dem Blick auf das Alasani-Tal, wilder Wein leuchtet und wirft Schatten zugleich. Es läuft gut für den Georgier, denn er führt ein Gästehaus an einem der beliebtesten Orte im gesamten Kaukasus: Sighnaghi, ein in den vergangenen Jahren herausgeputztes, uriges Städtchen in der Weinregion Kachetien. Am Telefon sagt Kusikaschwili, er könne alle Sprachen, spricht sich dann dafür aus, das Gespräch auf Russisch zu führen, denn obwohl er auch Chinesen bewirtet oder Europäer, sein Russisch ist perfekt. Was praktisch ist, denn fast die Hälfte seiner Gäste kommt aus Russland. Doch in den vergangenen Tagen kamen von dort nicht nur Touristen, sondern auch ein paar Absagen. Kusikaschwili gibt sich gelassen, denn die Nachfrage aus dem Ausland bleibt insgesamt gross, aber er sagt auch: «Das Ganze ist schlecht für den Tourismus in Georgien.»
Tumulte und Proteste
Das Ganze, zusammengefasst: Am Montag trat ein Verbot in Kraft, das der russische Präsident Wladimir Putin vor knapp zwei Wochen per Dekret unterzeichnet hat. Alle Flüge von Russland nach Georgien werden seit gestern ausgesetzt, russischen Reisebüros wird empfohlen, vorerst keine Touren in den südkaukasischen Staat mehr anzubieten. Anlass waren gewaltsame Ausschreitungen in Tiflis, nachdem der russische kommunistische Abgeordnete Sergei Gawrilow sich bei einer kirchlichen Veranstaltung auf den Platz des georgischen Parlamentspräsidenten gesetzt hatte. Es gab Tumulte, der russische Gast wurde hinausgeleitet, Tausende Menschen demonstrierten; gegen die georgische Regierung und einen wachsenden Einfluss Russlands.
Die Antwort aus Moskau kam prompt und scharf. Das Flugverbot, offiziell angeordnet, um die vielen russischen Bürger in Georgien zu schützen, könnte das Land empfindlich treffen. Der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew drückte sich so aus: Wenn sich «eine antirussische Hysterie» ausbreite, könne er einen Aufenthalt dort nicht empfehlen. Das klingt nach einer unverhohlenen Drohung, und das Flugverbot ist bereits eine stärkere Konsequenz, als wenn Moskau etwa allgemein zur Vorsicht bei grossen Menschenansammlungen gemahnt hätte. Tiflis weiss, was das bedeuten kann. Denn die Tourismusbranche ist in Georgien eine wichtige Säule. Nachdem Russland und Georgien im August 2008 fünf Tage gegeneinander Krieg geführt hatten und Moskau die völkerrechtlich zu Georgien gehörenden Gebiete Südossetien und Abchasien als unabhängige Staaten anerkannt hatte, brach der Besucherstrom aus dem grossen Nachbarstaat rapide ab.

Doch in den vergangenen Jahren sind die Touristen aus Russland zurückgekommen. Die Wachstumsraten sind seitdem zweistellig. Allein im vorigen Jahr besuchten mehr als 1,6 Millionen russische Touristen das gebirgige Kaukasusland, die Hauptstadt Tiflis, die Weinanbaugebiete Kachetiens, die Berge Swanetiens, die Strände am Schwarzen Meer. Sollte das Flugverbot dauerhaft bestehen, droht der georgischen Tourismusindustrie nach Schätzungen ein Verlust von bis zu 300 Millionen Dollar. Doch es trifft auch Russen selber.
Zum Beispiel Wjatscheslaw Scheltow, der in Moskau für das Reisebüro Mama Grusia arbeitet. «Viele Kunden haben ihre Ferien storniert, und wir haben das Geld zurückgezahlt», sagt er am Telefon. Die politische Lage will er nicht kommentieren, doch das Flugverbot heisst er schon aus eigenen Interessen nicht gut. In den vergangenen Jahren sei die Nachfrage nach Georgienreisen jeweils fünf-, sechsfach gestiegen, sagt Scheltow. «Georgien ist reich an Geschichte, es gibt viele Kirchen, die Schwarzmeerstadt Batumi, die Preise sind vergleichsweise niedrig.» Und Russisch könnten die meisten Georgier auch.
Der Wein fliesst nicht mehr
Statt der Direktflüge bietet Scheltow nun Flüge über Weissrussland an, Armenien oder Istanbul. Seine Kunden versucht er zu beruhigen; dass russische Touristen gefährdet seien, kann er nicht bestätigen. «Ich stehe ständig in Kontakt mit Urlaubern und den Partnern in Georgien, unsere Gäste fühlen sich immer sehr freundlich behandelt, es ist dort alles normal.»
Die Reizschwelle im russisch-georgischen Verhältnis ist in den vergangenen zwei Wochen spürbar gesunken, und betroffen ist nicht nur der Reiseverkehr. Nur wenige Tage nach dem Dekret zum Flugverbot gab die russische Verbraucherschutzbehörde bekannt, dass sie die Qualitätskontrollen an der Grenze verstärkt und die Lieferung von acht georgischen Weinproduzenten gestoppt habe. Mehr als 200'000 Liter georgischen Weins hätten im vorigen Jahr die erforderlichen Standards nicht erreicht. Wein, der bei den Russen eigentlich sehr begehrt ist. Kremlsprecher Dmitri Peskow versicherte sogleich, dass «es hier keinerlei politischen Konflikt» gebe und es lediglich um «vorbeugende Massnahmen zum Schutz unserer Bürger» gehe.
Annäherung an die EU
Erstaunlich sind die Spannungen vor allem, da die Proteste in Tiflis sich in erster Linie gegen die eigene Regierung richteten. Der russische Autor Kolesnikow vermutet deshalb, dass die in Russland gesunkenen Werte für Präsident Putin dazu beitragen könnten, dass «die Aussenpolitik auf den Bildschirm zurückkehrt». Die «Nowaja Gaseta» dagegen titelte nach der Ankündigung des Flugverbots eine Reportage aus Georgien mit dem Zitat: «Das wurde extra dafür gemacht, damit die Leute auf die Krim reisen.» Nur für Georgien macht das vermutlich kaum einen Unterschied.
Russland ist ein wichtiger Nachbar und grosser Markt, doch zwischen den beiden Ländern steht die Lage in Abchasien und Südossetien; die georgische Regierung und die Opposition sehen Russland als Besatzer. Die Regierungspartei, Georgischer Traum, gilt in den Augen der Opposition als zu russlandfreundlich, doch in ihre bisherige Regierungszeit fielen die Unterzeichnung des Assoziierungsvertrags mit Brüssel, der gestiegene Handel mit der EU, die Visafreiheit der Georgier für die Staaten der Europäischen Union. Ohne dass allerdings eine Aufnahme in Aussicht steht.
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