Mit Flügeltüren über Fahrbahnschwellen
Der Mercedes SLS AMG kehrte auf die Strasse zurück, auf der sein Vorfahre, der 300 SL, im Jahr 1952 einen grossen Sieg feierte: Auf die Carrera Panamericana in Mexiko.
Der Mercedes SLS kennt vor allem einen Feind. Perfid greift ihn dieser an seinen beiden verwundbarsten Stellen an – dem Drang nach forschem Tempo und der Bodenfreiheit. Dieser Feind heisst hierzulande Fahrbahnschwelle, in Mexiko Tope. Wobei sich die mexikanische Gattung von der europäischen unterscheidet. Im Land der SUVs hat der Tope nämlich die Dimension einer voralpinen Gebirgskette, die sich quer über die Strasse legt.
Und ausgerechnet im Schwellenland Mexiko, wo unvorsichtige Fahrer ihr Auto auf einem Tope auch schon halbiert haben sollen, lässt Mercedes eine Schar von Auto-Journalisten ans Steuer des SLS AMG. Kein Zufall, sondern Kalkül. Denn es gibt einen sehr guten Grund, wieso die Wahl trotz der lauernden Gefahr ausgerechnet auf Mexiko fiel: die erfolgreiche Geschichte, die den Stuttgarter Autobauer Mercedes-Benz mit dem Staat in Mittelamerika verbindet.
Drei Autos, ein Doppelsieg
1950 hatte Mexiko als erstes lateinamerikanisches Land seine Teilstrecke des panamerikanischen Highways, der Feuerland mit Alaska verbinden sollte, fertig gebaut. Um die Welt auf die grossartige Leistung Mexikos aufmerksam zu machen, beschloss der damalige Staatspräsident Miguel Alemán, auf der eben vollendeten Strecke ein Autorennen zu veranstalten: die Carrera Panamericana. Und Alemán hatte sich nicht verrechnet. Das Interesse amerikanischer und europäischer Automobilhersteller war riesig. Mercedes-Benz schickte 1952 drei Wagen an den Start und errang gleich einen Doppelsieg. Das Team Karl Kling/Hans Klenk schaffte die 3100 Kilometer in knapp 19 Stunden. Das entsprach einer halsbrecherischen Durchschnittsgeschwindigkeit von 165 Stundenkilometern auf normal befahrenen öffentlichen Strassen.
Rennwagen oder Luxussportler
Das Fahrzeug, das diese sagenhafte Leistung schaffte, war der 300 SL – eine Gitterrohrrahmenkonstruktion mit Aluminiumkarosserie, 6-Zylinder-Reihenmotor mit 3,1 Liter Hubraum und 180 PS bei einem Leergewicht von 870 Kilogramm. Das augenfälligste Merkmal des Autos: die Flügeltüren. In dieser Tradition positionieren die Stuttgarter den neuen SLS AMG. Wobei, und dies sei vorneweg bemerkt, der SLS mit dem 300 SL ausser den Flügeltüren und dem Mercedes-Stern rein gar nichts zu tun hat. Denn der SLS ist ein Luxus-Sportwagen, keine Rennmaschine. Daran habe ich nach der 2-tägigen Carrera-Memorial-Tour, die von Puebla über Oaxaca in den Süden nach Huatulco führte – zu grossen Teilen entlang der Originalstrecke der Carrera Panamericana – keine Zweifel mehr.
Einsteigen, bitte
Das Cockpit bietet Platz für zwei Menschen und nicht viel mehr. Schon das Verstauen von Handy und Brieftasche ist nicht ganz einfach. Die Mittelkonsole scheint eine Art Geheimfach zu sein. Man kann sie kaum öffnen. Ebenfalls versteckt – im Handschuhfach – der Anschluss für iPhone oder iPod. Sitzen tut man wie in einem grossen, gefütterten Lederschuh. Die Pedale sind nur wenig unterhalb der Hüfte angeordnet. Die Rückenlehne befindet sich fast auf der Höhe des hinteren Radlaufs. Alle Instrumente sind problemlos abzulesen, die Schalter und Knöpfe bequem erreichbar. Auch der Startknopf.
Eine «Wall of Sound» ertönt unter der Haube. Wäre Musikproduzent Phil Spector nicht im Knast, würde man glauben, das Sounddesign stamme von ihm. Der schwäbische 6,2-Liter-V8 tönt uramerikanisch: Er gurgelt im Standgas, und bei höheren Drehzahlen beginnt er richtiggehend zu schreien. Der Soundtrack erinnert mich an die legendäre Verfolgungsjagd zwischen einem Mustang Fastback und einem Dodge Charger im Film «Bullitt».
Einen Scherz haben sich die Soundingeneure erlaubt: Nimmt man – nachdem man gehörig Schub gegeben hat – den Fuss vom Gas, beginnts im Auspufftopf zu knallen: unverbranntes Benzin, das in der Hitze der Abgase kleine Explosionen verursacht. Mit Sicherheit kein Anwärter auf das Prädikat «ökologisch sinnvoll». Aber schliesslich ist der 280?000 Franken teure SLS ja kein Stadtauto, sondern ein Sportwagen. Und das spürt man auch beim Verbrauch, den Mercedes zwar mit 13 Liter auf 100 Kilometer veranschlagt hat. Auf unserer Reise durch Mexiko stand der Bordcomputer am Schluss bei 18,5. Aber zugegeben: Die Motoren wurden gequält.
571 PS und eine Polizei-Eskorte
Damit dies auf Mexikos Strassen möglich war ohne den regulären Verkehr allzu stark zu irritieren, wurde der SLS-Konvoi von der mexikanischen Polizei eskortiert. Eine seltsame Situation: Für einmal sorgen Gesetzeshüter nicht für die Einhaltung der Tempolimiten, sondern dafür, dass man sie ohne Not übertreten kann. Und das macht mit dem SLS richtig Spass. Drückt man auf die Tube, spürt man zunächst mal die erhebliche Masse des fast fünf Meter langen Sportlers im Rücken. Trotzdem beschleunigt der 571 PS starke Kompressor-Motor das Gewicht von rund 1,7 Tonnen in 3,8 Sekunden auf Tempo 100. Damit braucht der Mercedes keinen Vergleich zu scheuen, weder mit Porsche noch mit Ferrari.
Die lange Schnauze lässt sich handlich durch die schmalen und mäandrierenden Präriestrassen des Highway 135 steuern. Haarnadelkurven allerdings kennt der Mexikaner nicht, dafür sind die Bögen überhöht, teilweise fast wie an der Nordschleife. Da lässt sich der SLS nicht lange bitten. Mit steigendem Tempo wird die Lenkung härter, und man fühlt sich in der Kurve so sicher wie in einer Zentrifuge im Nasa-Ausbildungszentrum. Der SLS fährt Kurven wie auf Schienen. Wählt man den Sport- oder gar Sport-Plus-Modus, macht die Kurvenhatz noch mehr Spass. Die 6-Gang-Automatik schaltet deutlich früher runter, und man hat am Ende der Kurve den nötigen Saft zur Verfügung, um auf der nun folgenden Geraden sportlich zu beschleunigen.
Aber irgendwie scheint alles ein bisschen zu perfekt beim SLS. Er fordert den Fahrer kaum, man glaubt sich fast im Videospiel «Gran Tourismo» – im Automatikmodus, wohlverstanden. Alles geht spielend einfach, und man wähnt sich trotz hohem Tempo in grosser Sicherheit.
SLS «überlebt» den Speedbump
Doch der Schein kann schon mal trügen, und auch die Polizeieskorte kann die Topes nicht demontieren. Die sind im Asphalt einbetoniert, und man übersieht sie nur allzu gern – auch ich. Und zwar genau am Ende einer jener vorher erwähnten Geraden. Mit weit über 100 Stundenkilometern rase ich auf eine solche Fahrbahnschwelle zu. Als mein Beifahrer «Topes!» ruft, passiert etwas Seltsames: Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Szene aus «American Graffiti», bei der einem Polizeifahrzeug die Hinterachse weggerissen wird – in Zeitlupe. Die Vollbremsung, während der der Mercedes übrigens exakt auf der Spur bleibt, kann das Tempo zwar reduzieren, doch der Frontspoiler des SLS küsst den Speedbump mit immerhin 80 Sachen. Und es folgt ein fürchterlicher Knall. Aber zu meinem grossen Erstaunen folgt nun kein Funkenregen, es fliegen weder Karosserieteile noch Räder davon, nein, der Wagen fährt weiter, wie wenn nichts passiert wäre. Ich fahre rechts ran und steige aus, um mich zu versichern, dass wirklich nichts kaputtgegangen ist. Glück gehabt. Einzig mein Kopf schmerzt und brummt. Und das hat damit zu tun, dass ich auch diesmal beim Aussteigen meinen Schädel an der Flügeltür angestossen habe.
*??Peter Wälty fuhr den neuen SLS AMG am 28./29. März auf Einladung von Mercedes-Benz Schweiz in Mexiko.
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