Mit dem Velo durch die Weltgeschichte
Der Mauer-Radweg um das ehemalige West-Berlin führt an die Schauplätze dramatischer Ereignisse. Vom ehemaligen Todesstreifen ist nicht mehr viel übrig geblieben.

Auf der Havel gleitet ein Passagierschiff vorbei, im Ufergebüsch schimpft der Rohrspatz. An dieser idyllischen Ecke in Nieder Neuendorf wollen wir eine kleine Rast einlegen. Eben haben wir unsere Räder in den Veloständer gestellt, als ein braun gebrannter Vierzigjähriger um die Ecke kommt mit einem blonden Zehnjährigen an der Hand. «Als ich so alt war wie du, stand hier die Mauer. Den See konnten damals nur die Soldaten dort oben sehen», sagt er zu seinem Sohn und deutet hinüber zum weiss getünchten Turm. Es ist einer von einst 300 Wachtürmen, aus denen die DDR-Soldaten nach Flüchtlingen Ausschau hielten, und zwar nach solchen, die das Land verlassen wollten – übers Wasser, nach West-Berlin.
1989, als die Mauer fiel, war der Vater ein Schuljunge. «An jenem Tag sind wir alle zusammen hierhergekommen», erzählt er weiter. «Wir haben unsere Hämmer genommen und die Mauer weggekloppt. Dann sind wir zum Angeln ans Wasser.» «Und warum haben die Soldaten nicht geschossen?», fragt der Kleine. «Weil sie froh waren, dass das alles vorbei war.»
«Scheussliches Bauwerk»
28 Jahre lang schloss die Mauer die 160 Kilometer lange DDR-Grenze zu West-Berlin. Im August 1961 hatte SED-Chef Walter Ulbricht deren Bau befohlen, um den Exodus aus der sozialistischen Diktatur zu stoppen. Bis dahin waren schon über vier Millionen meist gut gebildete Ostdeutsche in den Westen geflohen. Für den Sozialisten Ulbricht im Osten war die Mauer ein «antifaschistischer Schutzwall», für Sozialdemokrat Willy Brandt im Westen ein 3,6 Meter hohes «scheussliches Bauwerk», das an der Havel und deren Seen über viele Kilometer direkt am Ufer stand – wie in Nieder Neuendorf.
Vor 30 Jahren hätten wir eine Velotour über die Kolonnenwege kaum überlebt.
Wie kann man nur in einer solchen Gegend Ferien machen, am Rande Berlins, wo sich zur Zeit der deutschen Teilung unzählige Dramen abgespielt haben? In der Tat hätten wir diese Velotour vor 30 Jahren kaum überlebt. Denn fast auf der ganzen Länge führt die Route über die sogenannten Kolonnenwege, auf denen damals die schwerbewaffneten DDR-Soldaten patrouillierten.
Der Reiz dieser Reise
Für einmal sind es nicht die Einzigartigkeit der Landschaft oder die Schönheit der Dörfer und Städte, die den Reiz dieser Reise ausmachen, sondern die Weltgeschichte, die hier hautnah erlebbar wird. Kommt dazu, dass unterwegs nicht hässliche Vorstädte und zerstörte Landschaften dominieren, sondern Eichen- und Kiefernwälder, Felder und Auen und dann natürlich Berlin mit seinen Flüssen und Kanälen.

Unsere Fahrt beginnt in der Hauptstadt von Brandenburg, in Potsdam, der Stadt der deutschen Kaiser, Schlösser und Garnisonen. Durch den Park Babelsberg gelangen wir auf den Mauerweg, und schon bald erreichen wir den ersten Schauplatz der Weltgeschichte, die Glienicker Brücke. Diesseits das einstige West-Berlin, drüben Brandenburg in der Ex-DDR.
Einst Spione, heute Chinesen
Hier tauschten die Sowjets und die USA ihre Spione aus, zuerst geheim, zum letzten Mal 1986 und vom Fernsehen direkt übertragen. Als wir mit unseren grünen Mietvelos ankommen, ist die Stahlbrücke ebenfalls ziemlich bevölkert von einer chinesischen Reisegruppe. Auch Spanisch und Italienisch wird gesprochen.
Die Glienicker Brücke ist ein touristischer Magnet, wie es kurze Zeit später auf dem Mauerweg auch das Schloss Cecilienhof ist, wo Stalin, Churchill und Truman an der sogenannten Potsdamer Konferenz 1945 die Nachkriegsordnung verhandelten. Dann aber führt der Weg in der Berliner Innenstadt an den Hotspots des Massentourismus vorbei. An der Gedenkstätte Bernauerstrasse, am Checkpoint Charlie, an der Eastside Gallery, dem längsten noch erhaltenen Stück Mauer, das heute als die bekannteste Open-Air-Kunstgalerie Deutschlands gilt.
Ansonsten verläuft die recht gut ausgeschilderte Route häufig durch unberührte Wälder. Immer wieder fragen wir uns, wo die Mauer verlaufen ist. Nur 28 Jahre nach der Wiedervereinigung wissen das selbst die Deutschen nicht mehr ganz genau. Zu sehr waren sie 1989 darauf erpicht, das Schandmal der Teilung so rasch wie möglich zu eliminieren.
72 Schüsse auf einen Mann
Wie schlecht es um die Lebensbedingungen in der DDR gestanden haben muss, zeigen auch die vielen Fluchtgeschichten, die auf Gedenktafeln und orangen Stelen entlang der Route erzählt werden. Zum Beispiel jene von Willi Block, der dreimal erfolglos versuchte, die Grenzanlagen zu überwinden: Beim dritten Versuch im Februar 1966 in Staaken westlich von Spandau blieb er im Stacheldraht hängen, und weil er deswegen nicht wie befohlen die Hände heben konnte, wurde er erschossen – mit einer Salve von 72 Schüssen.
Obwohl die Grenzanlagen doppelt und dreifach gesichert waren und obwohl der Tod drohte, haben Tausende die Flucht gewagt. Mindestens 140 kamen dabei ums Leben. Über 5000, darunter fast 600 Grenzsoldaten, haben es geschafft. Gut 3000 wurden allerdings verhaftet und verschwanden darauf in DDR-Gefängnissen.
Wem dieser Bericht zu wenig nach entspannten Ferien tönt, dem sei das Vorwort des Radreiseführers von Bikeline empfohlen. Dort heisst es: «Auf dieser Tour gelingt es, eine lebendige Reise durch die Geschichte mit einer vergnüglichen Radtour zu verbinden.» In unserem Fall hat sie sechs Tage gedauert.
Die Reise wurde unterstützt von Eurotrek.
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