
Das Tamedia-Handbuch «Qualität in den Medien» fordert, dass Fakten und ihre Wertung im unabhängigen Journalismus grundsätzlich zu trennen seien: «Diese im angelsächsischen Journalismus entstandene Regel gilt im Newsjournalismus streng.»
Die Richtlinie stützt sich unter anderem auf einen Ausspruch von C. P. Scott (1846–1932), dem legendären Chefredaktor des «Manchester Guardian». Im Leitartikel zum 100-jährigen Bestehen seines Blattes im Mai 1921 schrieb der Brite über die Trennung von Nachrichten und Meinungen: «Comment is free, but facts are sacred» – Kommentare sind frei, Fakten aber heilig. Kommentare, so der Chefredaktor, würden mit Recht einer selbst auferlegten Zurückhaltung unterliegen: «Es ist gut, offen zu sein; noch besser ist es, fair zu sein.» Das sei, schloss C. P. Scott, ein Ideal, in Realität nicht immer zu erfüllen, aber stets anzustreben.
Das Gebot der Trennung von Nachricht und Kommentar scheint jedoch nicht allen Leserinnen und Lesern bewusst zu sein. Sie nehmen mitunter Fakten als Meinungen und Meinungen als Fakten wahr. Wie vor kurzem im Fall zweier Leitartikel in «Basler Zeitung» (BaZ) und «SonntagsZeitung» (SoZ), die mehrere Beschwerden ausgelöst haben. Der BaZ-Beitrag erschien unter dem Titel «Die Arroganz der Ungeimpften ist unerträglich», jener in der SoZ unter der Überschrift «Jetzt muss Berset die Gegner zur Impfung zwingen».
Ein Leser der BaZ kritisiert den Leitartikel als «brillante Hassrede und Hetze gegen Ungeimpfte», ein anderer tadelt ihn als «zutiefst diskriminierend, volksverhetzend und aufwieglerisch». Ein dritter spricht vom Straftatbestand einer Volksverhetzung: «Inzwischen ist ja allgemein bekannt, dass die Impfung komplett für nichts ist.» Wenn Ungeimpfte den Impfstoff nicht wollten, fragt eine Leserin der SoZ, «warum dann diese absolut an Nazizeiten erinnernde Hetze».
Auch werden die beiden Artikel nicht als persönliche Meinungsäusserung, sondern als repräsentativ für die angeblich einseitige Corona-Berichterstattung des Verlags gesehen. Es werde, meint ein SoZ-Leser, immer schlimmer mit den Tamedia-Titeln: «Von investigativem, fairem und faktenbasiertem Journalismus und einem Rest Anstand ist kaum mehr etwas zu erkennen.» Auch von korruptem Konzernjournalismus ist zum Teil die Rede.
Am Ende des Tages aber machen nicht die Medien Corona-Politik, sondern die Legislativen und Exekutiven des Landes.
Zweifellos sind dies Reaktionen besorgter Bürgerinnen und Bürger und als solche ernst zu nehmen. Das Recht auf freie Meinungsäusserung gilt nicht nur für die Presse, sondern auch die Bevölkerung. Es sei für sie, schreibt eine kritische Leserin, «eine sehr wichtige Abgrenzung von unglaublichem Wert, zu meiner Meinung stehen zu dürfen, mein Leben selbst zu bestimmen und mir und meiner Gesundheit gut zu schauen».
Am Ende des Tages aber machen nicht die Medien Corona-Politik, sondern die Legislativen und Exekutiven des Landes. Doch die Presse ist häufig die Überbringerin schlechter Nachrichten oder die Verkünderin unpopulärer Massnahmen gegen die Pandemie. Wozu sie dezidiert ihre Meinung äussern darf. Was nicht immer ohne Folgen bleibt: Einzelne Beschwerdeführende haben ihre Tamedia-Abos abbestellt.
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Kolumne des Ombudsmanns – Mini Meinig, dini Meinig
Das Gebot der Trennung von Nachricht und Kommentar scheint nicht allen Lesenden bewusst zu sein. Sie nehmen mitunter Fakten als Meinungen und Meinungen als Fakten wahr.