Millionen Afrikaner sitzen auf ihren Koffern
Die Frontex-Schiffe der EU werden von Menschenschmugglern benutzt wie Taxiunternehmen. Über eine fatale humanitäre Politik.

EU-Politiker haben sich in der Vergangenheit als Zweckoptimisten profiliert. Die Einstellungen gegenüber den demografischen Wellen aus Afrika über Libyen machen da keine Ausnahme. Als im November dieses Jahres die Zahl von 36'000 afrikanischen Armutsflüchtlingen, die aus Libyen mithilfe der EU nach Europa kamen, bekannt wurde, schlug man Alarm. In diesem Zusammenhang entstand der neue Slogan «Flüchtlinge sollen direkt zurück nach Afrika» (Welt am Sonntag vom 06.11.2016).
Mehr als Geplänkel ist dies jedoch nicht, denn die EU wird auch diesmal nichts unternehmen, ebenso wie vor circa zwei Jahren, als in grossen Tönen eine EU-Militäraktion gegen die Schmugglerboote angekündigt wurde – ein paar Monate später war keine Rede mehr davon. Auch auf die Ankündigung vom November, afrikanische Armutsflüchtlinge nicht mehr nach Italien zu befördern, sondern nach Afrika zurückzubringen, wird nichts folgen, denn die Ankündigung wird von Politikern in dem zitierten Artikel bereits mit Einschränkungen verbunden: «Rechtlich mehr als fragwürdig» heisst es, und es hätten «keine Pläne oder Gespräche auf EU-Ebene» stattgefunden.
Neben der inzwischen einigermassen geregelten Balkanroute ist die Mittelmeerroute von Libyen als Transitland ausgehend heute der zentralste Weg für Millionen Armutsflüchtlinge aus Afrika nach Europa. Die wichtige Erkenntnis ist zwar vorhanden, dass man diese Mittelmeerroute nur in den Griff bekommt, wenn die staatliche Ordnung in Libyen wiederhergestellt ist. Aber auf die Frage, wie das vonstattengehen soll, weiss kein EU-Politiker eine Antwort.
125 bewaffnete Stämme
Mithilfe der EU und der USA ist es gelungen, während des Arabischen Frühlings 2011 den Stammesführer und Despoten Muammar al-Gaddhafi zu stürzen. Sowohl die Waffenarsenale der aufgelösten libyschen Armee als auch die vom Westen an Gaddhafi-Gegner gelieferten Waffen befinden sich heute in den Händen von circa 125 Milizen, die jede staatliche Ordnung im Land behindern. Der Westen wird dieses Chaos nach dem Zerfall der Staatsmacht nicht in den Griff bekommen können, denn die Fragmentierung der politischen Ordnung und die bewaffneten Stämme lassen sich von aussen nicht regulieren.
Wenn man einen Zustand, in diesem Fall die Gaddhafi-Herrschaft, abschafft, dann muss man ein politisches Szenario für das haben, was danach folgen soll. Dies haben die EU und die USA nicht auf dem Schirm gehabt. Der im Irak-Krieg gemachte Fehler bestand darin, dass es kein Post-Saddam-Hussein-Szenario gab. Derselbe Fehler wurde 2011 nach Gaddhafis Sturz wiederholt: Ein Libyen ohne Gaddhafi, aber auch ohne Post-Gaddhafi-Szenario. Der Fehler in Libyen hat dazu geführt, dass dort heute bewaffnete Stammesmilizen die kriminellen Schleuserbanden beim Transfer der afrikanischen Armutsflüchtlinge nach Europa unterstützen und Millionen Dollar hierfür kassieren.
Hier geht es nicht um Humanität, sondern um den jihadistischen Islamismus, verbunden mit einer Ökonomie der organisierten Kriminalität. Und was tut die EU dagegen? Zu ihren Worthülsen gehört die Formel «Fluchtursachenbekämpfung», etwa durch Wiederherstellung der staatlichen Ordnung in Libyen. Ist das machbar?
Fangen wir mit den Fakten an: Früher haben Schleuser aus Libyen grosse Boote benötigt, um afrikanische Armutsflüchtlinge von der libyschen Küste aus über Hunderte Meilen bis zu den nächstliegenden italienischen Inseln zu bringen. Das ist heute nicht mehr nötig, weil Frontex-Schiffe der EU im Rahmen der Seerettungsoperation Sophia nur wenige Meilen vor der libyschen Küste in internationalem Gewässer kreuzen und den kriminellen Schleusern assistieren.
Ich berufe mich im Folgenden auf die Recherche eines Spiegel-Teams, die monatelang in Libyen durchgeführt und im September veröffentlicht wurde. In diesem Bericht steht: «Deutsche Fregatten und andere Schiffe der EU-Rettungsmission Sophia kreuzen so dicht vor der libyschen Küste, dass die Menschenhändler nur noch wenig für Boote und Sprit ausgeben müssen. Ein maroder Kahn, ein paar Liter Diesel und ein Satellitentelefon für den Notruf genügen … Schlepper und schwer bewaffnete Milizen arbeiten Hand in Hand. Die Milizen brauchen Geld und die Menschenhändler Schutz. Eine für beide gewinnversprechende Konstellation.» Dies alles erfolgt mit Duldung der EU, ja sogar mit dem Euphemismus «Seenotrettung als humanitäre Politik».
Die realpolitische Aufgabe bleibt, dass die EU den Schutz ihrer Grenzen garantiert. Statt dies zu tun, helfen Frontex-Schiffe der EU den Menschenschmugglern bei ihrer Arbeit. Der libysche Colonel Naji sagt in Sowija dem Spiegel: «Die Schlepper benutzen euch inzwischen wie ein Taxiunternehmen, das die Kundschaft sicher und kostenlos kurz vor der libyschen Küste abholt.» Dies nennen die EU-Politiker «Schutz der Grenzen Europas» und verdummen auf diese Weise die eigene Bevölkerung. In Wahrheit wird die deutsche Willkommenskultur instrumentalisiert von Schleuserbanden und von Islamisten.
EU ohne Handlungskonzept
Die Tatsache, dass Millionen Afrikaner bildhaft auf ihren Koffern sitzen, um für ein besseres Leben nach Europa überzusiedeln, indiziert eine heftige Herausforderung. Die EU macht Politik, hat aber keine Policy. Das heisst, sie hat kein Handlungskonzept für den Umgang mit Libyen und mit der Zuwanderungsproblematik.
Um zu verstehen, wie bedrohlich die illegale Zuwanderung nach Europa über Libyen und das Mittelmeer ist, muss man auf Zahlen zurückgreifen. Es ist aber Fakt, dass es keine zuverlässigen Daten gibt. So führt die Süddeutsche Zeitung für die ersten neun Monate dieses Jahres die Zahl 160'000 an, der Spiegel erwähnt 130'000, nach Angabe des UNHCR sind es circa 280'000 Flüchtlinge. Die tatsächliche Zahl wird sich auf eine Drittel- bis eine halbe Million belaufen, mit steigender Tendenz. Wenn Frontex täglich fünf- bis zehntausend Afrikaner vor der libyschen Küste rettet, kann selbst die hohe Zahl von 38'000 für Oktober 2016 nicht stimmen.
Kein Fall für die Moralkiste
Wenn man eine Regelung für diese Zuwanderung aus Afrika anstrebt, dann muss dies über eine staatliche Ordnung in Libyen erfolgen; seit dem Zusammenbruch der auf einem Stammesbündnis basierenden Diktatur gibt es dort keinen funktionierenden Staat mehr. Der Staatszerfall generiert ein Vakuum, welches den Menschenschmuggel aus Afrika nach Europa ermöglicht. Europäer, die hier Rechtfertigungen aus der Moralkiste holen, übersehen, dass es sich hier ein kriminelles Unternehmen handelt, das diametral zu allen moralischen Erwägungen steht.
Libyen ist ein «nomineller Nationalstaat», das heisst eine Vereinigung von Stämmen unter einer Nationalflagge. In Libyen gibt es bis heute weder ein Staatsvolk noch autoritative staatliche Institutionen, gleich ob diese traditionell – wie in Ägypten oder Marokko – oder modern, wie in Industriegesellschaften, sind. Daraus folgt, dass Libyen ohne funktionierende staatliche Institutionen existiert. Aber wie?
Der Herrscher personifiziert die Macht, die mit seiner Ermordung steht und fällt. Seit der Ermordung Gaddhafis 2011 gibt es faktisch keine Staatsmacht in Libyen. Dort beherrschen Stämme und ihre Milizen ihr jeweils eigenes Territorium. Heute wird Europa moralisch damit erpresst, dass es nicht genug Menschen aus diesen Booten rettet. Das Drama begann 2013, als der Papst nach einem Unfall auf Lampedusa Europa vorwarf, «seine Seele verloren» zu haben. Was kann die EU beziehungsweise Deutschland gegen die angeführte Herausforderung tun? Frontex schützt die EU-Grenzen nicht; ihre Schiffe retten die illegalen Flüchtlinge und bringen sie – ihrem Wunsch entsprechend – nach Europa. Weil die EU keine Policy hat, werden Seenotrettung und Transfer nach Europa synonym verstanden und ausgeübt. Praktisch ist dies eine Assistenz für die kriminellen Schleuserbanden bei ihrem Unternehmen zur Förderung der illegalen Migration.
Libyen ist eine koloniale beziehungsweise postkoloniale Konstruktion. Ein Libyen als staatlich-territoriales Gebilde hat es in der Geschichte nur dreimal gegeben. Einmal unter italienischer Kolonialherrschaft, ein zweites Mal als Monarchie unter der religiös-tribalen Herrschaft des Sanusi-Clans und ein drittes Mal unter der Diktatur von Colonel Gaddhafi. Vor der italienischen Kolonialherrschaft hat es nie einen Staat oder ein staatliches Gebilde oder Territorium namens Libyen gegeben.
Ich komme nicht aus dem Staunen heraus, wie die hier erläuterten, für Europa zentralen Probleme von deutschen Nahostexperten angegangen wurden, und möchte diesen Mangel anhand einer Veröffentlichung (Zeitschrift der Bundeszentrale für Politische Bildung vom 15. August) illustrieren. Der Libyen-Experte Wolfram Lacher, der die deutsche Bundesregierung berät, nennt die Situation in Libyen «Bürgerkrieg», offensichtlich ohne Ahnung von diesem Sachverhalt zu haben. Denn in Libyen gibt es keine Bürger, sondern Kollektive, die Stämme heissen.
Dieser Experte lehnt es ab, diesen Krieg als «einen Krieg zwischen Stämmen» wahrzunehmen; denn dieser sei –politisch korrekt formuliert – ein Kampf unter «konkurrierenden Machtzentren». Was ist das? Die Antwort lautet: «Konkurrenz der lokalen Eliten». Eliten ist ein moderner Begriff und gilt nur für moderne Gesellschaften; Libyen ist aber keine moderne Gesellschaft, sondern eine Stammesgesellschaft. Dieser Experte begreift nicht nur nicht, dass die Gewalt in Libyen kein «Bürgerkrieg» ist; auch glaubt er irrtümlicherweise daran, dass die Zeit des «Bürgerkrieges» beendet sei.
Krieg dauert an
Im Dezember 2015 wurde «unter starkem westlichen Druck» das Abkommen «zur Bildung einer Einheitsregierung» beschlossen. Es ist ohne Bedeutung. Die Einheitsregierung in Libyen hat keinerlei staatliche Autorität. Auch nach 2015 findet in Libyen ein Krieg unter den Stämmen statt, deren Milizen die kriminellen Schleuserbanden gegen viel Geld unterstützen. Die in Libyen nominell bestehende Regierung kann nicht helfen, den Zustrom der Armutsflüchtlinge aus Afrika zu stoppen.
Besser als der zitierte deutsche Experte ist eine Studie der University of Oxford über Libyen: Hiernach träumen die meisten Libyer nach dem Misslingen des Arabischen Frühlings von einem Imam als Staatsführer, so wie einst Gaddhafi, und nicht von Demokratie, wie das westliche Wunschdenken unterstellt. Warum tun sie das? Weil der innere Krieg in Libyen noch vorherrscht, auch wenn der deutsche Libyen-Experte glaubt, er sei 2015 beendet worden.
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