Blick in die ZukunftMilliarden-Stadion und grosser Fussball: Mailand träumt wieder
Die Frage, wie es mit der AC Milan weitergehen soll, wird zum Theater. Und auch der deutsche Coach Ralf Rangnick sorgt für Unruhe.


Neulich trug sich im Palazzo Marino, dem Mailänder Rathaus, eine Sitzung zu, die man in gewöhnlichen Zeiten für normal halten könnte. Nun aber wirkte sie unerhört leichtfüssig, gewissermassen eine falsche Note aus der Zukunft, so sehr man sie auch hören mag.
Die grossen Fussballvereine der Stadt, die Associazione Calcio Milan und der FC Internazionale, je in ausländischen Händen, legten ihre Projekte für ein neues, topmodernes Stadion draussen im Stadtteil San Siro vor, 65’000 Plätze. In den Simulationen sehen beide Vorschläge toll aus. «La Cattedrale» vom Studio Populous erinnert tatsächlich an eine Kathedrale, was schon für sich einigermassen kurios ist. Das alte Meazza hat sich ja eher als «Scala des Fussballs» eingebürgert, als Bühne für Tenöre, auf der allerdings öfter Schreihälse zugange waren. Das alternative Modell der «Anelli di Milano» vom Architekturbüro Manica Sportium heisst so, weil seine Arena aus zwei figurativen Ringen besteht, die sich elegant ineinander verschränken.
Im Sommer wird entschieden. 2024 soll es fertig sein. 2026 würde es dann wohl die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele beherbergen. Und weil die Stadt verlangt hat, dass Teile des alten Stadions gleich nebenan aus Respekt für dessen kulturelle Bedeutung erhalten bleiben, wird daraus ein Grossvorhaben für etwa 1,2 Milliarden Euro. Ein urbanistischer Eingriff.
Populous würde die Rampen zum zweiten Tribünenrang hinüberretten wollen, die Konkurrenz liesse dazu auch noch einen der vier charakteristischen Ecktürme stehen. Die gesamte Anlage soll sich dann einmal, wenn sie transformiert wäre, der Vergnügung der Mailänder andienen: mit Laufbahnen, Fahrradpisten, Fitnesszentren, einem Park für Skater, Bolzplätzen für Calcetto, fünf gegen fünf, das meiste gratis. Dazu Läden, ein Konsumtempel, ein Fussballmuseum, Kinos. Orte eben, die gerade geschlossen sind. Sehnsuchtsorte, Orte für Zukunftsträume.
Nur einige Hundert Meter von der hoffnungsfrohen Baustelle entfernt, auf dem alten Messegelände Portello, liegen noch Patienten auf der Intensivstation eines Feldhospitals. Angeschlossen an Beatmungsgeräte. Corona und Calcio, es ist ein schwieriges Duo.
Rangnick zerreisst die Gemüter
In der «Gazzetta dello Sport», der Mailänder Sportzeitung, verhandeln sie nun seit Wochen das Theater um die Zukunft der AC Milan – seitenlang, mit Interviews aller Grössen aus der Vergangenheit, mit Analysen. Noch ist nicht klar, ob die suspendierte Meisterschaft irgendwann weitergeht, aber in den Köpfen der Milanisti ist sie ohnehin abgehakt. Als Nullnummer: Platz sieben, zwölf Punkte hinter dem Vierten Atalanta Bergamo, also wieder keine Champions League. Wie in den sieben vergangenen Jahren nicht. Meister wurde man schon seit neun Jahren nicht mehr.
Bei Milan geht es schon um morgen. Kommt er, kommt er nicht? Passt er hierher, oder passt er nicht hierher? Man ist nicht weit weg vom Sein oder Nichtsein. Und das alles wegen Ralf Rangnick, dem deutschen Coach, Fussballboss von Red Bull. «Er ist nicht da, aber es ist, als wäre er da», schreibt die «Gazzetta». Er geistert herum – als möglicher neuer Trainer des Vereins, ab Sommer vielleicht. In der Zwischenzeit beherrscht er die Debatten, zerreisst die Gemüter.
Die Aufregung um Rangnick hat einen langen Vorlauf, und wenn der Kontext nun auch ein bisschen überrissen weit gezogen scheint für die Personalie: Er beginnt mit einem Epochenwechsel in der Stadt, einer Art Zäsur.

Mailand war nämlich auch einmal eine Kapitale des Fussballs. Früher, als Milan noch Silvio Berlusconi gehörte und Inter dem Erdölindustriellen Massimo Moratti, da verschmolzen die Vereine mit der Stadt in einer fast esoterischen Symbiose. Familienkapitalismus und Fussball, zuweilen von richtiger Politik durchsetzt – das war schon sehr unterhaltsam. Im Nachhinein wenigstens. Und wenn man so herumschaut, wer in manchen grossen Vereinen Europas nun befiehlt – Oligarchen, Emirate, Fonds ohne Grund und Boden –, dann sind Leute wie der dauerrauchende Moratti eine nostalgische Träne wert, sogar Berlusconi mit all seinen Macken. Als sie es leid waren, für die Gunst der Plebs jedes Jahr Dutzende Millionen Euro in ihre Vereine zu pumpen, ohne Aussicht auf Rendite, verkauften sie an Investoren aus Fernost.
Milan ging 2017, nach einem Drama in tausend Episoden, an den Chinesen Li Yonghong. Dieser gab sich als Besitzer einer Phosphatmine aus, sehr vermögend. In China kannte ihn keiner. Aber das störte in Mailand niemanden, schon gar nicht Berlusconi. Ihn kümmerte nur der Preis, offenbar einigte man sich auf 740 Millionen Euro. Li zahlte mit Mühe, in Tranchen und – wie man noch erfahren sollte – alles auf Pump. Schon bald war klar, dass er seine Schulden nicht bedienen konnte, und so fiel Milan an die New Yorker Elliott Management, einen internationalen Hedgefonds. Mit Fussball haben solche Fonds wenig am Hut, sie wetten am Liebsten auf Pleiten, Staatspleiten und Firmenpleiten, wenn das mal nicht ominös ist.
«Bevor er Italienisch lernt, rate ich ihm, Respekt zu lernen.»
Als Geschäftsführer holte Elliott Ivan Gazidis, einen südafrikanischen Sportmanager mit griechischen Wurzeln, der davor den FC Arsenal geführt hatte – einen von aussen also. Im italienischen Fussball mag man Leute von aussen nicht so gern, und man lässt es sie schnell spüren. Die Italiener räumen selbst gern ein, dass ihre Fussballwelt eine besonders komplizierte ist: kulturell komplex, ein Tollhaus voller Clowns und Egomanen in den Vereinsspitzen. Gazidis sollte Milan sehr schnell zurück zum Erfolg bringen – nicht um der Trophäen willen, sondern weil Elliott den Verein möglichst rasch und gewinnbringend verkaufen möchte. Heuschrecken sind keine Mäzene – sie fleddern ihre Beute.
Zwei Jahre ist das her. Sportlich ging fast gar nichts, obschon Unsummen in Transfers investiert wurden. Gazidis kontaktierte Ralf Rangnick, von dem er viel hält. Rangnick war natürlich angetan: ein Traditionsverein, grosser Name, noch grössere Verbesserungsmarge. Und da er den früheren Milan-Trainer Arrigo Sacchi schon immer verehrte, schien die Sache mit Mailand das Zeug zur Fügung zu haben.
Nun wurde es Boban zu bunt
Nun hätte der Fall Rangnick eigentlich gar nie publik werden müssen, Kontakte gibt es schliesslich ständig. Doch das Problem war, dass Gazidis den Rest der Führungsriege nicht eingeweiht hatte in seine Pläne. Das ärgerte vor allem zwei Männer, die bei solchen Firmenentscheiden von Amtes wegen partout konsultiert werden müssen – Spielerlegenden dann noch des Vereins: Paolo Maldini, Milans dämmerfreies Idol und Sportdirektor, und der Kroate Zvonimir Boban, eine Dekade im Mailänder Mittelfeld und Chief Football Officer.

Rangnick gab immer mal wieder ein Interview mit gar nicht so verklausulierten Signalen. In Italien konnte man überall lesen, Rangnick wolle alle Macht, ihm schwebe die Rolle eines Managers vor, wie es sie in der englischen Premier League gebe: für alles zuständig. Bis es Boban nun zu bunt wurde. In einem Interview sagte der Kroate, er halte die unabgesprochenen Verhandlungen mit Rangnick für «respektlos und unelegant». Dummerweise war auch das Interview nicht abgesprochen mit dem Verein, und so wurde Boban entlassen. Vor einigen Tagen meldete sich auch Maldini – bei der staatlichen Nachrichtenagentur Ansa, als stünden hier geopolitische Gleichgewichte auf dem Spiel. Er habe nie mit Rangnick gesprochen, sagte er. «Bevor er Italienisch lernt, rate ich ihm, Respekt zu lernen.»
Kommt er, kommt er nicht? Kommt Rangnick, so viel scheint klar, dann geht nach Boban auch Maldini. Und Ibrahimovic. In Mailand würden sie sagen: die ganze Seele. Die «Gazzetta» ruft den Präventivkritikern zu: «Wer weiss, vielleicht ist Rangnick mit 61 ja der Sacchi des dritten Jahrtausends.»
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