
Das Hotel in Marokko hatte keine drei Sterne, auch nicht zwei, es hatte keinen einzigen. Auf dem Flur tummelten sich düstere Gestalten. Es waren zu viele, um ruhig einschlafen zu können. Ich verschanzte mich im Zimmer und begann im Tramperrucksack zu wühlen. Als ich das Ding aus kühlem Metall in der Hand hielt, fühlte ich mich schlagartig sicherer: Mein Sackmesser – mit Säge, Feile, Schere, Ahle und vielem mehr ausgerüstet und darum fast so schwer wie eine Smith & Wesson – schob ich mit geöffneter Klinge unters Kopfkissen, im beruhigenden Glauben, mich notfalls damit verteidigen zu können.
Bald fielen mir die Augen zu. Da splitterte plötzlich die Zimmertüre. Jemand beugte sich über mich, ich spürte seinen Atem im Gesicht. In Panik griff ich zu meinem Messer mit der flammend roten Griffschale. Der Eindringling flüchtete sofort.
Im Traum hat mir mein Sackmesser, damals, auf einer Interrail-Reise, das Leben gerettet. Auch im wirklichen Leben war es mir immer wieder von unschätzbarem Nutzen. Wobei es weniger dramatisch zu und her ging. Viel Blut floss bei seinem Gebrauch ohnehin nie, abgesehen vom einen oder anderen kleinen Schnitt in den Finger.
Als Pfadfinder klappte ich stolz die Säge aus und machte mich daran, Baumstämme zu bearbeiten. Das Sägeblatt mit seinen Haifischzähnen frass sich ins Holz wie in Butter, ich entschuldige mich an dieser Stelle nachträglich für den Frevel. Dank seinem integrierten Kreuzschraubenzieher konnte ich wackelnden Möbeln oder klappernden Velos neue Stabilität verleihen. Einmal gelang es mir, mit der am Messer angebrachten Lupe Sonnenstrahlen zu bündeln, um trockenes Laub zum Glimmen zu bringen und ein Feuer zu entfachen. Der Klöpfer, den ich anschliessend brätelte, steckte an einem Ast, den ich zuvor liebevoll zurechtgeschnitzt hatte.
Soll ich sagen, mein Sackmesser sei ein unverzichtbarer Begleiter? Das wäre untertrieben. Es ist ein Utensil, das mir allein schon durch seine blosse Existenz das Gefühl vermittelt, ich sei für alle Eventualitäten gewappnet – auch wenn ich es nicht auf mir trage, sondern nur irgendwo im Koffer verstaut mitführe. Obwohl nicht miteinander verheiratet, sind wir ein untrennbares Paar, verbunden in Liebe, die niemals rostet.
Mit meinem Sackmesser, denke ich in meinen kühnsten Fantasien, wäre es kein Problem, selbst den Angriff eines Wolfs oder eines Bären abzuwehren.
Mein Sackmesser ist mehr als ein Werkzeug. Es hat eine metaphysische Dimension. Manche Leute nehmen einen Kieselstein als Glücksbringer mit auf ihre Reisen oder eine alte Münze. Ich packe das Sackmesser ein und verwandle mich augenblicklich in einen Abenteurer, einen Entdecker, bereit für grosse Missionen wie die Astronauten der Nasa. Für die gehörte ein Schweizer Sackmesser – Modell Victorinox Master Craftsman, ausgestattet unter anderem mit Mehrzweckhaken, Holzmeissel und Kombizange – angeblich ebenfalls zur Standardausrüstung, unverzichtbar wie eine Sauerstoffflasche. Ohne Sackmesser fühle ich mich dem Dasein schutzlos ausgeliefert, nackt wie der erste Mensch auf dem Weg zum aufrechten Gang.
Mein Vielzweckhelfer begleitet mich nun schon seit etwa einem halben Jahrhundert. Das Alter sieht man ihm kaum an. Dass es ein paar Kratzer eingefangen hat, ist nicht der Rede wert. Und dass es stellenweise etwas angeraut ist, schmälert seinen Wert für mich nicht. Im Gegenteil, es ist materialisierte Erinnerung und Verheissung zugleich. Nehme ich es zur Hand, frage ich mich: Was könnte ich mit meinem Messer in Zukunft noch alles anstellen? Wo könnte ich damit etwas durchbohren, entzweischneiden, zurechtbiegen?
Ich könnte, wenn es sein müsste, damit sogar Erste Hilfe leisten. Denn mein Sackmesser, stets gut geölt, zeichnet sich nicht nur durch zwei Klingen aus, die ich regelmässig schärfe, sondern auch durch filigrane Instrumente wie eine Pinzette oder einen Zahnstocher.
Mit meinem Sackmesser, denke ich in meinen kühnsten Fantasien, wäre es kein Problem, selbst den Angriff eines Wolfs oder eines Bären abzuwehren. Oder einen attackierenden Löwen das Fürchten zu lehren.
Bis heute war das zum Glück nicht nötig. Aber vielleicht kommt dieser Tag ja noch. Mein Sackmesser und ich – wir sind jedenfalls bereit.
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Ode ans Sackmesser – Messer, Messer, Messer über alles
Mein Sackmesser und ich – die Geschichte einer Liebe, die niemals rostet.