May wie Major: Zurück auf Anfang
Die britischen Konservativen streiten über das Verhältnis ihres Landes zur EU. Wie John Major droht Theresa May, zwischen zwei Lagern zerrieben zu werden. Irgendwann wird sie eine Entscheidung treffen müssen.

Eine schwache Premierministerin, die um ihre Mehrheit bangen muss, ein zerstrittenes Kabinett, das sich über die wichtigste Grundsatzfrage – das Verhältnis des Landes zu Europa –, nicht einig ist, tatsächliche und vermeintliche Verschwörer, die nur auf den richtigen Zeitpunkt für einen Putsch warten. Die Geschichte handelt von Grossbritannien, doch wäre das Geschlecht der Regierungschefin nicht, sie könnte genauso gut 1993 spielen wie 2017.
Damals bewohnte John Major 10 Downing Street, und irgendwann, im Juli 1993, wurde es ihm mit einigen seiner Minister zu viel: «Die Bastarde!», rief er über Michael Howard, Michael Portillo und Peter Lilley aus. Alle drei galten als eingefleischte Gegner des Vertrags von Maastricht, der anderthalb Jahre zuvor unterzeichnet worden war; Portillo wurde zudem nachgesagt, Major als Premier ablösen zu wollen.
Sündenfall Maastricht
Maastricht stellte für britische EU-Skeptiker den Sündenfall dar: Die Freihandelszone, der man 1973 beigetreten war, begann zu einer politischen Union zu werden, und die glühendsten Fortschrittler sahen bereits die Vereinigten Staaten von Europa am Horizont aufschimmern. In den Clubs und Parteilokalen der Tories überall im Land, doch auch auf den hinteren Bänken des Parlaments, herrschte Alarmismus: Major, der konservative Premier, hatte in den Augen einiger seiner Parteikollegen Grossbritanniens Souveränität aufgegeben. Sie vermochten zwar nicht, ihn zu stürzen, doch machten sie ihm fortan das Leben sauer.
Bastarde. Dass Theresa May Parteikollegen mit derartigen Invektiven bedenkt, ist kaum anzunehmen. Doch ähnlich wie Major droht auch sie in der Europa-Frage zwischen den Parteiflügeln zerrieben zu werden. Auf den ersten Blick ist das erstaunlich: David Cameron, ihr Amtsvorgänger, meinte, die Sache durch ein Referendum ein für alle mal klären zu können: Die Briten, so sein Kalkül, würden letzten Endes davor zurückschrecken, die EU zu verlassen, und der harte Kern der EU-Gegner in der Konservativen Partei müsste endlich Ruhe geben.
Diese Annahme war, wie wir heute wissen, naiv – und das wäre sie wohl auch gewesen, wenn sich eine Mehrheit gegen den Brexit entschieden hätte: In Brüssel, Berlin und Paris hätte man weitere Integrationsschritte, wie sie der französische Präsident Emmanuel Macron nun fordert, wohl so oder so in Angriff genommen; auch wenn das Referendum im Sinne Camerons ausgegangen wäre, hätten britische EU-Gegner irgendwann mit Recht argumentieren können, die Ausgangslage habe sich wieder einmal geändert.
Über Nacht konvertierte sie
Theresa May ist eine europapolitische Agnostikerin: Vor dem Referendum sprach sie sich eher halbherzig gegen den Brexit aus, hinterher setzte sie sich an die Spitze der Bewegung, und dies mit einer Emphase, als glaube sie fest daran, der EU-Austritt allein garantiere ihrem Land bereits eine grosse Zukunft. Nun findet sie sich unversehens in der Major-Position wieder. Das enttäuschende Abschneiden ihrer Partei bei den Wahlen im Juni, das manche für ihre Probleme verantwortlich machen, hat ihre Lage sicher ungemütlicher gemacht, doch das zugrunde liegende Problem wäre auch im Fall des grandiosen Wahlsiegs, den sich die Tories erhofft hatten, dageblieben.
Zwei Lager zerren an Theresa May: die Einen, die unbedingt einen Deal mit der EU wollen, und Andere, die bereit sind, ohne einen solchen vom Verhandlungstisch aufzustehen und damit den sogenannt harten Brexit in Kauf zu nehmen. May scheint einmal der einen, dann wieder der anderen Seite zuzuneigen: In ihrer Florentiner Rede sprach sie sich für die vorsichtigere Variante aus und kündigte an, eine Übergangsfrist anzustreben. Nun sagt sie auf einmal wieder, Grossbritannien müsse Notfallpläne für den harten Brexit schmieden. Und gleichzeitig deutet sie an, ihr Land könne in einer allfälligen Übergangsperiode weiterhin die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs akzeptieren.
Widersprüchliche Signale
Zurück auf Anfang, könnte man den derzeitigen Zustand der Debatte umschreiben, was natürlich damit zu tun hat, dass May es sich nicht leisten kann, eines der beiden Lager vor den Kopf zu stossen. Um es allen recht zu machen, sendet sie widersprüchliche Signale. Eine Entscheidung wird sie damit allenfalls hinausschieben können. Durch das mutmassliche Duell zwischen Aussenminister Boris Johnson und Finanzminister Philip Hammond, das britische Medien derzeit inszenieren, lässt sich der Konflikt personifizieren: Hammond steht für den vorsichtigen Kurs, Johnson für den risikoreichen. Einem von beiden wird May wohl die Flügel stutzen müssen.
Tatsächlich gibt es nur zwei intellektuell und politisch redliche Positionen: Entweder, man vertritt die Ansicht, Grossbritannien brauche unbedingt ein Handelsabkommen mit der EU. Wer allerdings (wie etwa Hammond) dieser Ansicht ist, müsste auch sagen, dass das Land Brüssel damit ausgeliefert wäre: Es müsste die Bedingungen der EU akzeptieren, oder, um es deutlich zu sagen, den Brexit falls nötig de facto absagen.
Was aber bedeutet der harte Brexit?
Vor der anderen Variante, der Möglichkeit eines harten Brexits, fürchtet sich die Wirtschaft: Ob dieser allerdings wirklich so katastrophal wäre, wie manche meinen, kann niemand seriöserweise sagen: Auch die Ökonomen sind sich darüber längst nicht so einig, wie britische und kontinentale EU-Freunde gerne suggerieren. Mervyn King etwa, der frühere Gouverneur der Bank of England, ist der Ansicht, der Brexit werde sich auf die britische Wirtschaft weit weniger auswirken, als seine Gegner und Befürworter aus politischen Gründen behaupteten.
Dass May den Konflikt politisch überlebt, ist durchaus möglich: John Major regierte nach 1993 noch einmal vier Jahre weiter. Erst 1997 erlösten ihn die Wähler.
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