«Lo spread»: Der Schrecken kehrt zurück
Die Zinsdifferenz zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen wächst bedrohlich. Schuld daran sind vor allem Italiens Regierung und ihr starker Mann Matteo Salvini.

Der Artikel des angesehenen italienischen Wirtschaftsjournalisten Federico Fubini im «Corriere della Sera» klingt äusserst besorgt. Sein erster Satz lautet: «In den letzten Tagen ist in Italien etwas passiert, was man seit längerer Zeit nicht gesehen hatte.» Der Begriff, der im Zentrum von Fubinis Beitrag steht, versetzt nicht nur Italien, sondern die ganze EU in Schrecken: «Lo spread» – die Zinsdifferenz zwischen den als sicher geltenden deutschen und den italienischen Staatsanleihen.
Öffnet sich diese Schere, liegt es daran, dass das Misstrauen der internationalen Investoren gegenüber italienischen Papieren wächst. Sie verlangen deshalb einen höheren Risikoaufschlag, was es für das ohnehin hoch verschuldete Italien teurer macht, seine Verbindlichkeiten zu bedienen.
Zu Jahresbeginn lag «lo spread» bei 130 Basispunkten. Selbst als nach den Wahlen vom 4. März wochenlang Unsicherheit über die Zusammensetzung der neuen Regierung herrschte, blieb er stabil. Ab Mitte Mai stieg er dann jedoch steil an. Zwischenzeitlich überschritt er die besorgniserregende Marke von 300 Punkten, gestern lag er bei 280 Punkten. Das ist das höchste Niveau seit 2013.

Erschreckend daran ist: Gerät Italien wegen der hohen Zinsen auf seinen Staatsanleihen in Zahlungsschwierigkeiten, ist es für die EU unmöglich, einen Rettungsschirm wie im Falle von Griechenland oder Portugal aufzuspannen. Dazu sind die italienischen Schulden schlicht zu hoch.
Ökonomen sind sich einig, dass die prekäre finanzielle Lage des italienischen Staates und der italienischen Banken die grösste Gefahr für die Zukunft des Euro darstellen. Falls die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem Satz «Scheitert der Euro, scheitert Europa» recht hat, zeichnen sich am Horizont Szenarien von grosser Tragweite ab.
Verantwortungslose Versprechen
Besonders alarmierend an der jüngsten Zunahme des Spread ist, dass es dafür eigentlich keine ökonomischen Gründe gibt. Laut Fubini reagieren die internationalen Investoren hingegen erstmals seit langem auf politische Entwicklungen – das heisst, auf die Irrationalität der italienischen Koalitionsregierung, an der die rechtsnationale Lega und die Protestpartei Cinque Stelle beteiligt sind.
Fiskalpolitisch waren schon die im Wahlkampf abgegebenen Versprechen verantwortungslos: Die Lega gelobte, die Steuern für alle zu senken und eine sogenannte Flat Tax einzuführen. Die Cinque Stelle schwadronierten von einem bedingungslosen Grundeinkommen, was ihnen besonders im armen Süden des Landes die Wähler in Scharen zutrieb.
Es ist undenkbar, dass die italienische Regierung ihre Weihnachtsmann-Attitüde umsetzen kann, ohne die Maastricht-Regel zu pulverisieren. Diese begrenzt das Budgetdefizit auf höchstens 3 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Die Krise um das Flüchtlingsschiff Diciotti hat die Furcht der internationalen Investoren noch verstärkt. Schuld daran ist Italiens momentan populärster Politiker, Matteo Salvini von der Lega. Der italienische Innenminister und Vizepremier hat im Umgang mit den 150 eritreischen Flüchtlingen, die auf seinen Befehl im Hafen der sizilianischen Stadt Catania tagelang an Bord der Diciotti ausharren mussten, wahrscheinlich nationales Recht und internationale Konventionen gebrochen. Die Justiz hat deswegen ein Ermittlungsverfahren gegen Salvini eingeleitet, worauf ihm auf Twitter binnen kurzer Zeit 100'000 Anhänger durch den Hashtag #nessunotocchiSalvini (Niemand soll Salvini anrühren) ihre Unterstützung versicherten.
Salvini erpresst die EU
Was aus Sicht der Investoren schwerer wiegt, ist Folgendes: In seinem Bestreben, andere EU-Länder zur Aufnahme der Flüchtlinge zu bewegen, hat Salvini auch zum Mittel der Erpressung gegriffen. Italien werde seinen Beitrag an den gemeinsamen EU-Haushalt verweigern, tönte es aus Rom, und man überlege sich, die Verhandlungen zum neuen EU-Haushaltsentwurf mittels Veto zu blockieren.
Die Drohungen stiessen zwar auch Italiens parteiloser Ministerpräsident Giuseppe Conte sowie Luigi di Maio aus, der Chef der Cinque Stelle und zweiter Vizepremier neben Salvini. Angesichts der Machtverhältnisse innerhalb der italienischen Regierung gibt es aber keine Zweifel, dass die treibende Kraft hinter der Konfrontationspolitik gegenüber Europa Salvini ist. Frankreichs Ministerpräsident Édouard Philippe warnte, dessen brachiale Verhandlungstaktik könne Italien «in eine Sackgasse führen.»
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Trotz der enthusiastischen Zustimmung seiner Anhänger hat Salvini im Zwist mit der EU noch nicht einmal gewonnen, sondern bestenfalls einen Scheinsieg errungen. Denn jene 100 Flüchtlinge, zu deren Aufnahme sich der Vatikanstaat und die italienische Bischofskonferenz bereit erklärten, werden in Italien bleiben. Weitere 20 Personen will Albanien aufnehmen, doch ist umstritten, ob es rechtlich überhaupt möglich ist, sie gegen ihren Willen in ein Nicht-EU-Land abzuschieben.
Was internationale Investoren zusätzlich nervös macht, ist, dass bei Exponenten von Salvinis Koalitionspartner der Unmut über das breitbeinige Auftreten des Innenministers wächst. Dasselbe gilt für jenen Teil der Cinque-Stelle-Wählerschaft, die ihre politischen Wurzeln in linken und ökologischen Milieus haben.
Die Anzahl der Migranten, die Italien über das Mittelmeer erreichen, ist um 90 Prozent gesunken.
Italienische Kommentatoren äussern den Verdacht, Salvini lege es darauf an, die Koalitionsregierung zu sprengen, um bei Neuwahlen für sich und seine Partei die politische Ernte seiner Haudrauf-Rhetorik wider die EU und seiner Härte gegenüber Migranten einzufahren. Dieses Szenario würde zu neuen Turbulenzen und womöglich zu politischer Instabilität führen, mit unweigerlich negativen Auswirkungen auf die Finanzmärkte.
Heute Dienstag trifft sich Matteo Salvini in Mailand zu einem Arbeitsbesuch mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban. Die Cinque Stelle betonen vorsichtshalber, das Treffen habe keinerlei institutionelle Bedeutung, während die linke Opposition mutmasst, der Innenminister wolle sich der sogenannten Visegrad-Gruppe annähern – jener Allianz osteuropäischer Länder, die einen europäischen Verteilschlüssel für Flüchtlinge kategorisch ablehnen. Sollte der Verdacht zutreffen, wäre es insofern paradox, als Italiens Regierung sich innerhalb der EU stets vehement für einen Verteilschlüssel ausgesprochen hat.
Seit Salvinis Vorgänger im Innenministerium, der zum linken Partito Democratico gehörende Marco Minniti, mit libyschen Behörden und Machthabern einen Pakt geschlossen hat, ist die Anzahl der Migranten, die Italien über das Mittelmeer erreichen, um 90 Prozent gesunken. Dennoch war Salvini bereit, sein Land während der Krise um die Diciotti auf Konfrontationskurs mit der EU zu führen – und dies in einem Moment, in dem sich die italienische Regierung anschickt, über das Haushaltsbudget 2019 zu beraten.
So gescheit wie Nicolás Maduro
Angesichts der schiefen öffentlichen Finanzen wäre sie eigentlich auf nachsichtiges Wohlwollen aus Brüssel angewiesen. Salvini würde antworten, genau damit müsse Schluss ein. «Prima gli italiani», die Italiener zuerst, lautet sein bevorzugter Slogan. Das schmeichelt dem Nationalstolz seiner Fans, doch wird Salvini mit solchen Sprüchen das wachsende Misstrauen internationaler Investoren nicht zerstreuen.
Der Wirtschaftsjournalist Fubini schreibt: «Dass die Regierung den Einsatz wegen eines vergleichsweise geringen Problems derart erhöht hat und dass sie ihre Bereitschaft beweisen wollte, das ganze EU-System zu erpressen, birgt das Risiko, bei den Verhandlungen über den italienischen Haushalt eine Gegenreaktion der anderen europäischen Regierungen zu provozieren.»
Bisher hat Salvini den sprunghaften Anstieg des Spread mit der flapsigen Bemerkung abgetan, es seien finstere internationale Spekulanten am Werk, die Italien und seiner neuen Regierung schaden wollen. Damit bewegt er sich auf dem intellektuellen Niveau des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro, der die Hyperinflation seines Landes ähnlich erklärt. An einem ändert Salvinis Verschwörungstheorie aber ganz sicher nichts: «Lo spread» bedroht Italien und Europa, wie er es seit Jahren nicht mehr getan hat. Und Italiens Regierung trägt dafür die Hauptverantwortung.
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