Die Seuche in der LiteraturLiebe und andere Ansteckungen
Die gelehrte Erzählung «Corona» bringt uns sechs Werke der Weltliteratur näher, in denen es nicht nur, aber auch um Infektionskrankheiten geht.

Matteo ist in Quarantäne. Er hat eine üble Grippe. Oder handelt es sich gar um das Coronavirus? Seine Gedanken kreisen ängstlich um den Tod. Trost spendet der Blick durchs Fenster auf die Stadt, in die «eine seltsame Stille eingekehrt» war, und seine Bibliothek, die ihm Welten öffnet. Als Buchhändler besitzt er eine Menge Bücher, und diese verleihen ihm in der einsamen Zeit des Stillstandes eine «existenzielle Kraft». Während seine Nichte Carla und eine Nachbarin seine alltäglichen Besorgungen erledigen, beschäftigt sich Matteo mit einer «Chronologie zur Literatur über die Seuchen».
Martin Meyer hat eine Erzählung mit dem unzweideutigen Titel «Corona» verfasst. Der ehemalige Feuilletonchef der NZZ lugt immer wieder, ironisch blinzelnd, hinter dem Protagonisten hervor: «Er war schlank und von mittlerer Grösse, immer noch ansehnlich trotz seiner siebzig Jahre.» Die existenzielle Kraft seiner Erzählung liegt nun aber weniger in der literarischen Gestaltung als in der gelehrten Analyse. Denn bei Matteos Gang durch die europäische Geistesgeschichte kommt es zu lehrreichen Begegnungen mit sechs Werken der Weltliteratur. Während uns der belesene Autor diese näherbringt, bleibt Matteo vor allem die Rolle des Überbringers der Botschaften.
Von der Bibel bis Venedig
Die sechs lesenswerten Bücher, die ‹Matteo Meyer› vorstellt, sind bekannt: die Heilige Schrift mit ihren zehn biblischen Plagen, «Il Decamerone» von Giovanni Boccaccio, «Die schwarze Spinne» von Jeremias Gotthelf, «Der Tod in Venedig» von Thomas Mann , «Die Pest» von Albert Camus und – für viele wohl noch zu entdecken – «A Journal of the Plague Year» von Daniel Defoe. Auch wenn die Feuilletons in den letzten Wochen wiederholt auf diese Werke hingewiesen haben, schafft es Meyer dennoch, neue Bezüge in den einzelnen Werken und zwischen ihnen herzustellen. «Corona» ist darum weniger Erzählung als Erklärung.
Was bleibt nach Corona? Die Einsicht, dass wir die wenige Zeit, die uns bleibt, richtig einsetzen sollten. Dazu gehört zweifellos die Lektüre: Das neue Büchlein, in dem man auch erfährt, dass Kafka einer der Lieblingsschriftsteller von Matteo ist und Proust die meiste Zeit in Quarantäne schrieb, lädt zu einem literarhistorischen Spaziergang ein.

Guido Kalberer, Teamleiter Kultur, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie. Er schreibt vor allem über Themen an der Schnittstelle zwischen Kultur und Gesellschaft.
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