Lautlos zischt ganz Europa am Zugfenster vorbei
Eine Reise durch Westeuropa auf den neuesten Strecken der Hochgeschwindigkeitszüge (HGV): Das Netz wächst, und die Zukunft wird zur Gegenwart.

Das ist das definitive Ende von England als Insel: Statt nach dem Kanaltunnel in niedlichen Kurven übers Land zu ächzen und als Tuckerzüglein im südlichen London anzukommen, flitzt der Eurostar nun auf eigenem Gleis auf die Hauptstadt zu und unterfährt Ost-London in einem langen Tunnel. England haben wir kaum wahrgenommen, und schon tauchen links die Kuppel von St. Paul's und das Riesenrad auf. Wir halten zehn Meter über dem Erdboden unter einer himmelweiten Kuppel.
Das Dach der St. Pancras Station ist ein Gewölbe aus Glas, zusammengehalten von scherenschnittleicht wirkendem, hellblau gestrichenem Eisenwerk. Aber das viktorianische Imperium, an das es erinnert, ist weg. Hier ist Europa. Brüssel ab 11.59, sagte der Fahrplan, London an 13.03. Das sind, Zeitverschiebung einberechnet: 2 Stunden 4 Minuten.
Glamour für Reisende und Shopper
St. Pancras wurde mit sehr viel Geld in ein glamouröses Shoppingcenter verwandelt. Gleich nebenan liegt der verlotterte Lokal- und U-Bahnhof King's Cross. Auch er soll aufgemöbelt und durch eine weite Glas-Vorhalle mit St. Pancras verbunden werden. Daneben entsteht auf Industrieruinen eine neue Stadt.
Die Bahnhöfe, die Kathedralen des Industriezeitalters, später nur noch Background für Szenen des Proletariats, haben ihren Sexappeal zurückbekommen. Nun aber als Verknüpfungspunkte hipper Schnellbahnlinien. Das hat meine Europafahrt gezeigt. Sie hat im Berliner Hauptbahnhof begonnen. Auch er ist ein gigantisches Begegnungs- und Einkaufszentrum für die schnellen Europäer. Tief unten und hoch oben laufen die Gleise durch den Bahnhof, in einem Schacht wie auf einem Schulwandbild gleichzeitig zu sehen. In der Mitte sitzen Dutzende von Shops und Restaurants. Spanien brachte mich mit seinem vor 16 Jahren umgebauten HGV-Bahnhof Madrid Atocha zum x-ten Mal ins Staunen: Der tropische Wald in der alten Halle wird immer lebensechter. Die unterirdischen Bahnhöfe von Barcelona, Sants und Paseo de Gracia, und ihre lange Tunnelverbindung zur neuen HGV-Strecke nach Madrid haben nichts Pompöses, sind aber beeindruckende Zeugnisse vorausschauender Planung. Auch Italien zeigt Glamour: In Turin verlegt man die Schienen für die neue Schnellbahn und andere Züge in den Boden und baut neben dem Spielzeugbahnhof Porta Susa einen unterirdischen Bahnhofs- und Ladenpalast. Sogar im Bahnhof Milano Centrale ist nach 80 Jahren zum ersten Mal etwas passiert: Für die Superzüge aus Turin, die noch über die alten Weichen schaukeln, verlegt man neue Schienen. Die Haupthalle wird mit Stil restauriert. Mailand bewegt sich, den Anstoss geben die schnellen Züge.
Nur Paris, das ich mehrmals ansteuere, bleibt bahntechnisch ein Jammertal. Hier fuhren 1981 die eleganten TGV aus, die ersten HGV-Züge Europas. Noch heute müssen die TGV aber an vier verschiedenen Bahnhöfen starten. Als ehemalige Ausgangspunkte von konkurrierenden privaten Eisenbahnen des 19. Jahrhunderts sind sie nicht direkt miteinander verbunden. Das modernste Transportsystem der Welt, blockiert durch den Egoismus von Bahnkapitalisten der Gründerzeit. Und ich als spätes Opfer unter vielen: Ich muss auf dem Weg nach Barcelona in Paris Nord den schweren Koffer treppauf, treppab zur Metro schleppen, wenn ich den Bahnhof erreichen will, wo der nächste Zug abfährt.
Nüchterner ICE, lebendiger AVE
Ich sause also über Europas Schnellbahnsysteme (zwischendrin muss ich auch langsamere Linien nehmen), beobachte und notiere und stelle mit Erstaunen fest, wie schnell die Netze zusammenwachsen – und wie gross die Unterschiede zwischen den Hurtigbahnen dennoch sind. Der ICE von Berlin nach Hamburg, der ohne diesen billigen bordeauxroten Strich auf der Aussenwand noch cooler aussähe, hat innen etwas Biederes. Man sitzt in der Ersten auf dunkelblauem Leder, in der Zweiten auf brav gestreiftem Stoff und wundert sich, weshalb die Designer die Gepäckablage unbedingt aus geschweiftem Milchglas mit Chromleiste haben wollten. Die Schaffnerin ist nur Schaffnerin. Eine Frage beim Knipsen bringt sie aus dem Konzept, sie verspricht wiederzukommen und vergisst es. Eine Glasschiebetür klappert. Berlin–Hamburg ist eine Ausbaustrecke: Sie wurde mit Begradigungen, Überführungen und Neubauteilen für 23o Stundenkilometer tauglich gemacht. Die Neigezüge bekommen bei kleinen Kurvenradien nervöse Zuckungen.
Im spanischen AVE kann man auf der neuen Paradestrecke Barcelona–Madrid die vorbeiziehenden roten Halbwüsten und die Olivenhaine geniessen wie ein König. Nicht dass das Personal unterwürfig wäre – die stolzen Spanier umsorgen einen eher wie einen geschätzten Kollegen. In der Mittelklasse, «Preferente» genannt, werden gleich nach der Abfahrt Zeitungen, dann Getränke, später Snacks oder zu Essenszeiten warme Mahlzeiten auf Porzellan verteilt. Auch der AVE trägt aussen neuerdings einen violetten Kitschstreifen. Der Innenraum ist von perfekter Eleganz: wenig Farbe, Wände weiss, etwas helles Holz, Alustreifen. Auf den Ledersitzen der Ersten bekommt man die Drinks noch schneller. Die Sitze in der Ersten und in der Preferente zeigen alle in Fahrtrichtung; am Kopfbahnhof Atocha werden sie umgedreht. In der Touristenklasse ists enger, wie immer. Im AVE spürt man überall das Leben: da wird gerülpst, gelacht, gekrabbelt, plötzlich strahlt dich jemand an, und das ist schön.
Frankreich setzt einem beinahe alle TGV-Generationen vor. Je langsamer die Strecke, desto rachitischer der Zug. In den alten Zügen hats Schlitzfenster wie in einer Taucherglocke, die neueren wirken höher, aber nicht offen genug. Ferner möchte ich sagen, dass sogenannt lustige Farben Glückssache sind und die Kuschelecke in jedem Sitz (ein absurd hochgezogener Polsterteil) nur optische Aufgeregtheit schafft. In den TGV von Zürich nach Paris sitzt man bequem wie in allen TGV. Schade nur, dass mich der Zug auf vier Fahrten zweimal zwingt, wenig aufregende Landschaften 20 bis 30 Minuten intensiv zu betrachten.
Der Eurostar vom Kontinent nach London wirkt wegen seiner dunkel gestreiften Sitze und sattorangefarbigen Kissen etwas bordellartig, doch behaglich. In der Ersten fliesst gleich nach meiner atemlosen Ankunft der Cava, es gibt drei Menüs zur Wahl, serviert auf Porzellan. Auf dem Rückweg nehme ich die zweite Klasse. Da ists eng wie im Billigflieger (und, nur nebenbei, es wimmelt von Männern, die an den Nägeln beissen, und Frauen, die irre umherschauen).
Der Eurostar Italia, der zwischen Turin und Mailand seit kurzer Zeit voll aufdreht, versucht das gute alte Coupé wieder aufleben zu lassen, ohne den Passagieren ihr Sicherheitsgefühl zu nehmen. Die Sitzgruppen sind durch halbtransparente Wändchen abgetrennt. Das Bistrot mit seinen orange-grauen Rundpolstern in Blockstreifen kommt mir skurril vor: wie das Dekor in einem Mireille-Mathieu-Spot.
Je länger ich unterwegs bin, desto weniger beachte ich die Geschwindigkeitsangaben. Ob 230 oder 304 Stundenkilometer – die Masten zischen einfach schnell vorbei. Ich gewöhne mich an dieses Gefühl.
Sicherheit und Komfort: Verschieden
Wer in Brüssel-Midi den Eurostar nach London nehmen will, sei gewarnt: Die Sicherheitszone in diesem chaotischen Bahnhof ist in den Untergrund gequetscht worden. Sie ist, wie die in Paris Nord, leicht zu übersehen und scheint harmlos. Aber da werden Gepäck und Personen zeitraubend geprüft – mit Kofferröntgen und so. Dafür sollte man mindestens eine halbe Stunde einrechnen. Ich habs nicht getan. Den Einreisezettel für England müssen Schweizer nicht ausfüllen. Hätte ich das gewusst, hätte ich weniger geschwitzt.
Die spanischen AVE-Bahnhöfe hingegen haben seit jeher grosse Vorbereitungszonen. Hinter der Kontrolle findet man eine schöne Lounge mit Restaurants und Toiletten. Dann gehts per Rolltreppe zum Zug, wo an jeder Tür ein Helfer wartet. In Frankreich werden die HGV-Züge meist nicht recht kontrolliert. Einmal, als Kontrastprogramm, wanderten aber drei Beamte unermüdlich durch den Zug.
Einige HGV-Züge, die auf alten Strecken rollen, würden ohne Restaurierung nicht einmal von einem Museum angenommen. In Frankreich kann ich in einem TGV die Sitzlehnen nicht mehr fixieren. Der Thalys von Amsterdam nach Brüssel ist schmuddelig und abgeschabt, laut abgerissenem Aufkleber heisst er «THA...», dafür hat er als einziger auf meiner Testreise WLAN. Die Thalys- Züge werden ersetzt, wenn der Gleisumbau auf HGV-Norm fertig ist, und das ist bald der Fall.
Normalzüge sind oft Liebhaberobjekte. Die Strecke Barcelona–Lyon, die erst 2012 HGV-Status erhalten soll, absolviere ich in einem Talgo aus den Siebzigerjahren, der so abgewrackt ist, dass der Kondukteur allen Erstklassgästen einzeln versichern muss, dass sie im richtigen Wagen sitzen.
Die Schweiz – ein Schienenmuseum
Mein letztes Stück schneller Schienen ist die Strecke Torino–Milano. Die Linie Milano–Bologna wird am 14. Dezember eröffnet, weiter südlich gibts HGV-Linien sogar seit mehr als 20 Jahren. Nach der langen Fahrt auf den immer besser vernetzten HGV-Strecken kommt mir die Anreise zum Gotthard unendlich lang vor. Die Touristen rufen «wow!», doch aus dem Blickwinkel derer, die HGV als Flugzeug-Ersatz nutzen, wirkt die Entschleunigung wie eine Schikane, und die Einspurbummelei dem Zugersee entlang hat etwas Lächerliches.
Mir wird klar: Die Neat genügt nicht. Europas Bahnen sausen uns um die Ohren. Und was bieten wir? Bahnen von touristischem Wert. Der ist gross und soll marketingmässig ausgeschöpft werden – mit Fotostopps und Erläuterungen in den Zügen. Für die Eiligen braucht es Superschnellbahnen. Auch bei uns. So leids mir tut.
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