Kuschen oder toben?
«Shut up», herrschte Stanislas Wawrinka in Flushing Meadows einen Zuschauer an. Doch wehe, wer das New Yorker Publikum gegen sich aufhetzt.
Was der Typ in der vordersten Reihe des Arthur-Ashe-Stadions zu mitternächtlicher Stunde Stan Wawrinka alles zurief, dass dieser derart ausser Fassung geriet, ist nicht überliefert. Klar und deutlich zu hören war dafür während der TV-Übertragung dieser Nightsession am US Open, was der Weltranglistenvierte dem Provokateur zurief: «Shut up, seriously, shut up!» Halt den Mund, ehrlich, halt den Mund.
Es folgte sogleich ein Buhkonzert, wobei unklar war, ob es hauptsächlich dem Spieler oder dem Mann auf der Tribüne galt. Dieser musste wenig später gegenüber hohen Funktionären sein Ticket zeigen, durfte aber sitzen bleiben.
Wawrinka bewegte sich auf sehr dünnem Eis mit seinem Ausbruch, der von Zuschauern und TV-Kommentatoren sogleich hart kritisiert wurde und in einer wichtigen Spielphase erfolgte – bei 5:5 und 40:15 im 4. Satz. Doch er schaffte es immerhin, sich sofort wieder zu sammeln, das Game und wenig später das Tiebreak und damit den Match zu gewinnen.
New York: Laut, undiplomatisch und oft ungerecht
Am US Open legt man sich aber besser nicht mit dem Publikum an – dem lautesten, undiplomatischsten und oft ungerechtesten der Tenniswelt. Die Fans in Flushing Meadows sind wie New York: hart, schrill, laut, hektisch, kompromisslos, auf Spektakel aus. Boris Becker sagte einmal in jungen Jahren: «Hier könnte einer auf der Tribüne Saxofon spielen, und keinen würde es kümmern.»
Serena Williams redet bei David Lettermann über das Publikum in New York. (Video: Youtube/Late Show with David Letterman)
Besonders eindrücklich sind Nightsessions im weltgrössten Tenniskessel. Und je später der Abend, desto ungehemmter werden die Fans noch. Wer dann als Spieler das Glück hat, diese hinter sich zu scharen – Jimmy Connors war ein Meister darin –, verfügt über einen unschätzbaren Vorteil. Wer andererseits den Zorn des Publikums auf sich zieht, sieht sich plötzlich einer ihm feindlich gesinnten Wand gegenüber, die nicht mehr ausgeklammert werden kann. Dann wird das Stadion zum Hexenkessel, die Atmosphäre traumatisch und das Spielen zum Spiessrutenlaufen.

Der Tenniskessel aus der Spielerperspektive. (Bild: Reuters)
Nächtliches Witzeln mit dem Journalisten
Wawrinka kam mit einem blauen Auge davon, waren doch im inzwischen schon ziemlich leeren Stadion an diesem Abend auch unüberhörbar viele Brasilianer, die seinen Gegner Thomaz Bellucci mit allen Mitteln zum Sieg zu schreien bereit waren. Durch den schnellen Sieg verhinderte er, dass diese sich weiter entfalten konnten – ein fünfter Satz wäre für ihn wohl heikel geworden. Obwohl der Vaudois als emotionaler Spieler gilt und öfter einmal eines seiner Rackets die Originalform verliert, hat er auch noch immer ein intaktes Image als fairer Sportsmann. Szenen wie die jüngste können aber schnell dazu führen, dass aus «Stan the Man» sogleich «Stanimal» wird; ein Wortspiel, das auf Twitter nach diesem Intermezzo in Kommentaren gerne verwendet wurde und die animalische Seite des Lausanners betont.
Fans prügeln sich am US-Open. (Video: Youtube/TomoNews US)
Dieser sah sich weit nach Mitternacht selbst bemüssigt, die Wogen zu glätten und alles herunterzuspielen. Gegenüber einem einflussreichen Journalisten der «New York Times» zog er den Vorfall ins Lächerliche und twitterte ihm zu: «Hahahaha, der war betrunken, denke ich.» Er weiss es dank seiner grossen Erfahrung selber: So schnell wie an keinem anderen Turnier kann einem hier, in der Anflugschneise des La-Guardia-Airports, eine Partie entgleiten. Und dann ist der Weg zum nächsten Abflug nicht mehr weit.
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