Uli Siggs Sammlung in HongkongAlarmbereitschaft im Super-Museum
Hongkong wollte sich mit dem M+ ein Museum von Weltklasse schenken, jetzt eröffnet das Haus in einem Klima wachsender Repression. Im Zentrum der Aufmerksamkeit: Der Schweizer Uli Sigg und seine Sammlung chinesischer Kunst.

Wenn er eines in seinem Leben stets gesucht habe, sagt Uli Sigg einmal in diesen Tagen, dann Intensität. So gesehen haben es die letzten Monate noch gut mit ihm gemeint: Was für eine Achterbahnfahrt, dieses Jahr.
Seit vielen Jahren schon hatte Uli Sigg auf den Freitag, 12. November, hingearbeitet, und dann, im Frühjahr diesen Jahres, schien mit einem Mal alles auf dem Spiel zu stehen. Anspannung bis zur letzten Sekunde, buchstäblich bis Freitag morgen um zehn Uhr. Dann war es so weit: Das M+ öffnete seine Türen, jenes Museum, mit dem die Finanzmetropole Hongkong, lange als kulturelle Wüste geschmäht, auch hier in die Weltklasse aufsteigen wollte: Eine Museumsneugründung auf Augenhöhe mit dem Moma in New York, mit dem Centre Pompidou in Paris wollte die Stadt sich schenken.
Und mittendrin, als Grundstock und als zentrales Attest für die Weltgeltung des Museums die Sammlung moderner chinesischer Kunst des Uli Sigg. Eine Sammlung, die es so auf der Welt kein zweites Mal gibt.

Jetzt sind die Türen also auf, die Schlangen sind riesig, die Webseite des Museums war nach wenigen Minuten schon zusammengebrochen unter dem Ansturm. Sigg sagt: «Das könnte nicht besser aussehen. Ich wüsste wirklich nicht wie.» Sigg ist Schweizer des eher nüchternen Typs, nun aber erzählt er hörbar bewegt am Ende eines langen Tages aus der Mitte des Museums von «euphorischen, emotionalen» Menschen: «Einige weinen», sagt er. «Sie sagen: So etwas hat es in Hongkong noch nie gegeben.»
Einmal sagt Uli Sigg auch das: «Der erste Test ist bestanden». Tatsächlich. Allerdings legen die politischen Umstände nahe, dass dieser ersten Prüfung weitere, schwierigere folgen werden. Das Hongkong von heute ist nicht mehr die Stadt, die es einmal war.
Selbst bezeugen kann man den Ansturm leider nicht. Hongkongs Coronaregeln verlangen drei Wochen Quarantäne nach Einreise. Die Konsequenz: Hongkong feiert unter sich.

Also telefoniert man, lässt sich Fotos schicken. Und tatsächlich: Da steht, in der Mitte des Raumes, kühl und emotionslos beäugt von einer der «Bloodline»-Familien des Malers Zhang Xiaogang als grösste Installation Ai Weiweis Werk «Whitewash»: eine Gruppe neolithischer Vasen, vom Künstler zum Teil in weisse Industriefarbe getunkt.
Das ist deshalb von Bedeutung, da ein Werk von Ai Weiwei im Frühjahr der Auslöser des Sturms gewesen war: eine Fotografie, auf der er dem Tor des Himmlischen Friedens in Peking den Stinkefinger zeigt. Die erregten Pekingfreunde in der Stadt warfen Werk und Künstler vor, «Hass gegen China» zu verbreiten, alsbald sahen sich das Museum M+ und auch Uli Sigg unter Generalverdacht gestellt.
Wie sehr Hongkong aber mittlerweile eine andere Stadt geworden ist, zeigte sich daran, dass Regierungschefin Carrie Lam im Frühjahr die Attacken von teils kulturrevolutionärem Furor keineswegs als extremistische Absurdität abtat, sondern sich beeilte, zu versichern, ihre Behörden seien nun «in voller Alarmbereitschaft» und man werde dafür sorgen, dass die Ausstellungen nicht «die nationale Sicherheit untergraben». Das war ein Schock für die Hongkonger Kunstszene und für das M+-Team.
Sigg hat in den Neunzigern Pionierarbeit für die moderne Kunst in China geleistet, er sammelte nicht nur Meisterwerke
Für Uli Sigg muss das besonders schmerzvoll gewesen sein. Der einstige Journalist, hochkarätige Unternehmer und Peking-Botschafter seines Schweizer Heimatlandes hatte vor allem in den Neunzigerjahren Pionierarbeit für die vom offiziellen China ignorierte moderne Kunst geleistet: Von Beruf war er damals drei Jahre lang Diplomat, von Berufung aber Mäzen, Kurator und Pate einer ganzen Szene. «Es gab Jahre, da war ich der Markt», sagt Uli Sigg. Bewusst sammelte er nicht nur Meisterwerke und nicht bloss, was ihm gefiel: Er ging enzyklopädisch vor.
2012 schenkte Sigg den Grossteil seiner Sammlung, fast 1500 Werke, dem M+. «Ich will diese Werke den Chinesen zurückgeben», sagte er. Damals schien die Wahl der Stadt ein Geniestreich. Es war immer klar: Kein Museum in Peking oder Shanghai hätte die Sammlung je zeigen können, grosse Teile wären im Giftschrank verschwunden.

Man hat viel Gespräche gesucht mit den Offiziellen in den letzten Monaten, hat verhandelt und argumentiert – auch mit dem Branding der Stadt: Es gibt im von Peking arg geprügelten Hongkong noch immer Leute, die möchten, dass ihre Stadt als internationale Metropole wahrgenommen wird. Und so konnten sie nun die Eröffnungsausstellungen exakt so präsentieren wie schon immer geplant. Inklusive Ai Weiwei, der gleich zweimal präsent ist: Neben der Vasen-Installation wird ein altes Peking-Video von ihm gezeigt.
Die Ai-Weiwei-Stinkefingerfotos waren zu keinem Zeitpunkt als Teil der Eröffnungsausstellung geplant gewesen. Das trug zur vorübergehenden Entspannung vermutlich genauso bei wie die Tatsache, dass der zur Eröffnung tatsächlich geladene Ai Weiwei sein Kommen ebenso absagte wie alle anderen aus dem Ausland geladenen Gäste.
Ai Weiwei meldete sich über die Medien zur Eröffnung dennoch zu Wort und klagte, das Museum unterliege natürlich der Zensur. Tatsächlich ist Ai Weiweis Stinkefingerfoto auch von der Webseite des Museums längst verschwunden – an der Stelle begrüsst einen heute lediglich das M+-Logo. Offiziell merkte der Leiter des «Kowloon Cultural District», Henry Tang, dazu an, die Serie bedürfe «weiterer Überprüfung».
Henry Tang und Regierungschefin Carrie Lam sprachen beide zur Eröffnung. Sie betonten das Bekenntnis der Stadt zur Kunstfreiheit – und erklärten gleichzeitig, diese unterliege selbstverständlich dem Nationalen Sicherheitsgesetz. Was ein wenig so klingt wie die Verfassung der Volksrepublik China, die in Artikel 35 Meinung-, Presse- und Demonstrationsfreiheit garantiert, während Artikel 1 klarmacht, das sei alles unter dem Vorbehalt der «demokratischen Diktatur des Volkes» zu verstehen. Keine guten Aussichten.
Am Freitag also ein kurzer Moment des Aufatmens. Aber auch Uli Sigg weiss: Die nächste Prüfung kommt bestimmt. Hat er seine Schenkung je bereut? Nein, sagt er. «Es ist mir immer noch wichtig, dass die Sammlung in China ist.» Möglicherweise dauere es noch zehn, vielleicht zwanzig Jahre oder länger, bis einmal alles gezeigt werden könne. «Ich werde das vielleicht nicht mehr erleben. Aber um mich geht es nicht.»
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