
Demokratie lebt von Kritik, Demokratie lebt vom Protest; sie lebt auch vom Protest einer Minderheit, und zwar gerade dann, wenn die Mehrheit den Protest als völlig unberechtigt oder als überzogen betrachtet.
Bei den jahre- und jahrzehntelangen Protesten gegen die Kernenergie hat sich gezeigt, wie aus einer ursprünglichen Minderheitenposition im Lauf der Zeit eine Mehrheitsposition geworden ist. Und es hat sich gezeigt, wie aus dem Protest die Kraft wuchs, nach anderen Wegen der Energieerzeugung zu suchen.
Kritik an den Corona-Massnahmen ist notwendig, weil sie gewährleistet, dass während eines Lockdown die Demokratie lebendig bleibt.
Das lehrt: Kritik und Protest sind die Ressource für die Weiterentwicklung von Gesellschaft und Demokratie. Das ist eine Erkenntnis nicht erst der 68er-Jahre; aber spätestens seit den 68ern gehören Kritik und Protest zur Demokratie, sie sind ihr Lebenskern. Bei der Verteidigung von Gesundheit und Leben gegen das Virus darf deshalb dieser Lebenskern nicht beschädigt werden.
Kritik an den Corona-Massnahmen ist notwendig, weil sie gewährleistet, dass während eines Lockdown die Demokratie lebendig bleibt. Kritik ist heilsam, weil sie die Regierung zwingt, ihre Massnahmen besser zu prüfen und besser zu begründen. Kritik ist wichtig, weil auch die Not Gebote kennt und diese Gebote beachtet werden müssen.

Kritik kann zukunftsweisend sein, weil es das Ziel aller grundrechtseinschränkenden Massnahmen sein muss, diese Massnahmen möglichst schnell wieder überflüssig zu machen – und das bei der Mobilmachung der Exekutive gegen das Virus nicht vergessen werden darf. Wenn Kritiker einfach deswegen als Feinde der Demokratie oder schlicht als Dummköpfe und Störer betrachtet werden, weil sie einzelne Massnahmen der Corona-Bekämpfung kritisieren, dann gefährdet das die Demokratie. Kritik kann, ja muss dafür sorgen, dass der Ausnahmezustand wirklich eine Ausnahme bleibt.
Ein hegemonialer Diskurs und ein Klima, in dem eine Gesellschaft den Regenmantel anzieht, an dem jeder Widerspruch abperlt, kann dazu führen, dass Dissidenz deliriert und die Diktatur schon um die Ecke biegen sieht. Das tut sie nicht. Aber der Eifer und das Gefühl, gegen einen mächtigen Mainstream zu stehen, führen bisweilen zu gefährlichen und geschichtsblinden Vergleichen; das ist nicht gut und schadet dem Protest.
Zur Kritik gehört auch die Kritik an der Kritik; auch Kritiker müssen sich kritisieren lassen.
Es kann aber gefährlich werden, den Protest zu verachten und Kritiker vorschnell zu systemfeindlichen «Querdenkern» zu erklären. Damit tut man den Demokratiefeinden einen Gefallen, die es in viel zu grosser Zahl gibt; sie wollen die Energie des Corona-Stresses auf ihre Mühlen leiten. Das funktioniert dann, wenn Kritiker abgewatscht werden. Wer dauernd Idiot genannt wird, weil er sich nicht so poliert äussert – der fängt womöglich wirklich an, einer zu werden: stur und trotzig, irrational und unsozial. Demonstranten pauschal zu Idioten zu erklären, ist deshalb idiotisch.
Zur Kritik gehört auch die Kritik an der Kritik; auch Kritiker müssen sich kritisieren lassen. Wer aber die Kritik an einzelnen Massnahmen als Störung, als Gefahr für einen angeblich gesunden Grundkonsens diffamiert, muss achtgeben, dass er nicht das tut, was er bei anderen Themen anprangert: die eigene Position als alternativlos darstellen. Nicht der Konformismus mit allen Regierungsmassnahmen stärkt die Gesellschaft in Krisenzeiten, sondern die kritische Auseinandersetzung damit.
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Analyse zu Covid-Protesten – Wer Corona-Kritiker Dummköpfe nennt, gefährdet die Demokratie
Wenn Kritiker einfach deswegen als Feinde der Demokratie betrachtet werden, weil sie einzelne Massnahmen der Corona-Bekämpfung kritisieren, dann gefährdet das die Demokratie.