Kolumbien rätselt über Ingrid Betancourt
Welche Zukunftspläne hat die einst «berühmteste Geisel der Welt»? Kehrt Ingrid Betancourt bald nach Kolumbien zurück? Und wer war ihr Liebhaber im Dschungel?
Es scheint, Ingrid Betancourt habe ihrem Land den Rücken gekehrt. Seit sechs Wochen hält sie sich in Frankreich auf, ob und wann sie nach Kolumbien zurückreist, ist unbekannt. An der Grossdemonstration für die verbliebenen Farc-Geiseln, die kurz nach ihrer Befreiung stattfand, nahm sie nicht teil. Ihre Familie fürchte einen Racheakt der Guerilla und habe sie gebeten zu verzichten, liess sie aus Paris verlauten. Seither rätselt die Öffentlichkeit über die Zukunftspläne der 46-jährigen Politikerin – momentan die weltweit zweitberühmteste Kolumbianerin, gleich nach dem Popstar Shakira. Publikum und Medien überbrücken die Ungewissheit mit politischen Spekulationen und Blicken in die dampfende Gerüchteküche.
Für Marelby Agattón war es der glücklichste Moment ihres Lebens: Die Angestellte der Stadtverwaltung von Bogotá blickt während einer Arbeitssitzung auf das Display ihres lautlos gestellten Handys und bemerkt, dass sie seit einer Viertelstunde ununterbrochen Anrufe erhält. Als sie antwortet, fragt eine Freundin: «Hast du das mit Ingrid schon gehört?» «Nein, was ist mit Ingrid?», gibt Agattón zurück, und im Sitzungszimmer breitet sich Stille aus. Ihr Freudenschrei lässt die Anwesenden aufspringen und zum nächsten Fernseher eilen. Es ist der Nachmittag des 2. Juli. Kurz zuvor hat die kolumbianische Armee Ingrid Betancourt und vierzehn weitere Geiseln aus der Gewalt der marxistischen Guerillabewegung Farc (Fuerzas armadas revolucionarias de Colombia) befreit. Das Martyrium der einstigen grünen Präsidentschaftskandidatin ist zu Ende.
Zweifel an der Stimme
Sechs Jahre lang hat Agattón für die Freilassung ihrer Freundin und Parteigefährtin Ingrid Betancourt gekämpft. Sie hat ein Solidaritätskomitee gegründet, Märsche und Konzerte organisiert, T-Shirts bedrucken lassen, der Entführten über das Radio Mut zugesprochen. Für Betancourts Mutter Yolanda Pulecio ist sie eine unersetzliche Vertraute und Trösterin geworden. Nun rast Agattón in ihrem Auto an den Militärflughafen Catam, wo die Befreite inmitten einer euphorischen Menge von Soldaten, Journalisten, Freunden und ehemaligen Mitgefangenen steht. Betancourt winkt Agattón zu sich heran, muss aber noch ein Handygespräch mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy beenden. Dann fallen sich die beiden Frauen in die Arme. Betancourt flüstert ihrer Freundin ins Ohr: «Schone deine Kräfte, wir werden jetzt viel Arbeit haben.» «Was denkst du, was ich die letzten sechs Jahre hatte?», erwidert Agattón, weinend und lachend zugleich.
Am nächsten Tag fliegt Betancourt mit ihrer Familie nach Frankreich, von wo sie die Freundin regelmässig anruft. «Jedes Mal, wenn ich ihre Stimme höre, zweifle ich einen Moment lang an der Wirklichkeit», sagt Agattón. Für die sieben Soldaten und vier Polizisten, die mit ihr befreit wurden, hat die französisch-kolumbianische Doppelbürgerin Betancourt Präsident Sarkozy um einen Studien- oder Weiterbildungsplatz in Frankreich gebeten. Gegenwärtig organisiert Agattón in Bogotá einen einjährigen Französischkurs für die künftigen Studenten, später wird sie sich um deren Reise kümmern. «Und der Kampf zugunsten der übrigen Entführten geht weiter.» Über Betancourts Zukunftspläne weiss auch sie nichts.
Monatelang an einen Baum gefesselt
Der 2. Juli war nicht nur für Marelby Agattón, sondern für ganz Kolumbien ein Freudentag – und ein glänzender Triumph des Präsidenten Álvaro Uribe. Am folgenden Morgen erschien die Tageszeitung «El Tiempo» mit einem einzigen grossen Foto auf der Frontseite. Es zeigte, wie Ingrid zum ersten Mal nach sechs Jahren ihre Mutter umarmte, darunter stand in fetten Buchstaben: «Das war eine perfekte Befreiungsaktion». Auch das Wochenmagazin «Semana» widmete der ehemals «berühmtesten Geisel der Welt» eine Titelgeschichte und fragte: «Wird Ingrid Präsidentin?» Laut einer Umfrage gäben ihr dreissig Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme – ein Popularitätswert, den nur ein kolumbianischer Politiker übertrifft: Álvaro Uribe. Phasenweise erreichte dessen Beliebtheit unglaubliche neunzig Prozent, im Moment liegt sie bei mehr als achtzig.
Die Bevölkerung bewunderte Betancourt schon lange. Mehrere Ex-Geiseln hatten erzählt, wie kompromisslos sie ihren Peinigern Widerstand leiste – obwohl sie zeitweise schwer erkrankte und die Rebellen ihren Trotz bestraften, indem sie die Gefangene immer wieder monatelang an einen Baum ketteten. Auch nach dem spektakulären Handstreich der Armee sorgte Betancourt für Verblüffung. Sie kehrte nicht als traumatisiertes Opfer aus dem Dschungel zurück, sondern als ausgeglichen wirkende Frau, die sich selbstbewusst, wortgewandt und oft sogar humorvoll den Medien stellte. Während des Wahlkampfes hatte sie ihren damaligen Gegenkandidaten Uribe als korrupten, gefühlskalten Oligarchen geschmäht, nun dankte sie ihm für die geglückte Befreiung und würdigte seine Erfolge im Kampf gegen die Guerilla. Dabei setzt der Präsident gegenüber der Farc nicht in erster Linie auf Friedensgespräche, wie es Betancourt vor ihrer Entführung gefordert hatte, sondern auf militärische Härte.
Bisher kein Imageschaden
Mit ihrer regierungsfreundlichen Haltung widersprach Betancourt der eigenen Familie: Stets hatten ihre Mutter Yolanda Pulecio, ihre Schwester Astrid und ihr Ehemann Juan Carlos Lecompte den Präsidenten einen herzlosen Kriegstreiber genannt, dem das Schicksal der Entführten egal sei. Gewaltsame Befreiungsversuche hatten sie als zu gefährlich abgelehnt und die Regierung gedrängt, den Farc-Forderungen nach einer entmilitarisierten Zone nachzugeben. Bei einem Empfang für die befreiten Geiseln und deren Angehörige sagte Uribe zu Ingrids Mutter: «Ich hoffe, Sie mögen mich jetzt ein bisschen». Die Antwort war ein stummes Lächeln.
Betancourts lange Abwesenheit hat ihrem Image bisher nicht geschadet. «Es ist doch klar, dass sie jetzt erst mal mit der Familie zusammen sein will, möglichst weit weg von dieser ganzen Horrorgeschichte» – so oder ähnlich äussern sich rund ein Dutzend in Bogotá befragte Passanten. Dabei waren nach der Befreiung durchaus auch Missklänge zu vernehmen. Ihren Ehemann Juan Carlos Lecompte behandelte Betancourt beim Empfang am Flughafen mit schneidender Kälte. Seinen Wunsch, nach Frankreich mitzureisen, wies sie zurück. «Vielleicht ist Ingrids Liebe im Dschungel gestorben», klagte Lecompte in einem Interview, bevor er abtauchte. Gerüchteweise hat er sich während der Gefangenschaft seiner Gattin auf eine Liebesaffäre mit deren Cousine eingelassen.
Betancourt rettete Baby
Zu einem öffentlichen Streit kam es mit Clara Rojas – der Frau, die zum Zeitpunkt der Entführung Betancourts engste Vertraute und Mitarbeiterin war, gemeinsam mit ihr gekidnappt und von der Farc bereits Anfang Jahr an die venezolanische Regierung übergeben wurde. Im Dschungel zeugte Rojas mit einem Guerillero einen Jungen. Von einer hysterischen Attacke überwältigt, habe sie das Baby ertränken wollen, was Betancourt im letzten Moment verhinderte. Wer die Geschichte in die Welt gesetzt hat, ist umstritten, doch als ein amerikanischer Journalist Betancourt darauf ansprach, antwortete sie: «Es gibt Dinge, die bleiben besser im Dschungel.» Anderntags trat Rojas vor die Medien, um ihrer Wut und Enttäuschung über die ehemalige Freundin freien Lauf zu lassen: «Ich kann einfach nicht verstehen, warum Ingrid diese schändliche Lüge nicht dementiert hat.» Seither herrscht zwischen den beiden Schweigen.
Wilde Gerüchte zirkulieren auch über Betancourts angebliche Liebschaften während der Gefangenschaft. Seit neustem gilt der ebenfalls befreite US-Amerikaner Marc Gonsalves als einstiger Tröster in dunklen Dschungelnächten. Und im kleinen Kreis soll Betancourt erzählt haben, die Guerilleros hätten sie mehrmals vergewaltigt – ein Gerücht, das den öffentlichen Respekt für ihre Widerstandskraft noch vertieft.
Tritt Uribe noch einmal an?
Hegt Betancourt tatsächlich politische Ambitionen? Nach der Befreiung hat sie dies zwar angedeutet, aber nicht konkretisiert. Die angesehene Politologin und Kolumnistin Laura Gil ist davon überzeugt, denn Betancourt sei ein «animal politique». «Dass sie die Leistungen ihres früheren Gegners Uribe würdigte, war sehr clever. Hätte sie ihn angegriffen, wäre ihr Wählerpotenzial schlagartig auf höchstens zehn Prozent zusammengeschrumpft. Gegen Uribe ist in Kolumbien kein Staat zu machen.» Damit der Präsident bei den Wahlen im Jahre 2010 wieder kandidieren kann, ist allerdings eine Verfassungsrevision nötig – denn die aktuelle Konstitution erlaubt eine einzige Verlängerung der Amtszeit. Die fünf Millionen Unterschriften, um das Grundgesetz durch eine Volksabstimmung zu ändern, sind bereits zusammengekommen.
Falls das Vorhaben gelingt und Uribe – der sich bisher bedeckt hält – erneut antritt, ist jeder Gegenkandidat chancenlos. Falls nicht, schlägt vielleicht die Stunde der Ingrid Betancourt. Dass sie ohne die Sympathien von Uribes Anhängern nicht gewinnen wird, hat sie offensichtlich begriffen. Beobachter spekulieren sogar, sie könnte sich unter einem glanzvoll bestätigten Amtsinhaber zur Vizepräsidentin wählen lassen.
«Aber wenn sie eine politische Karriere anstrebt, muss sie schon gelegentlich heimkommen. Es sei denn, sie will nicht in Kolumbien, sondern in Frankreich Präsidentin werden», sagt Laura Gil. Für Marelby Agattón ist es bedeutungslos, wann Ingrid zurückkehrt. «Ich habe sechs Jahre lang gewartet. Da spielen ein paar Wochen oder Monate keine Rolle mehr.»
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