Kluger Rat wird teurer und teurer
Die Gelbwesten-Proteste bringen Frankreichs Präsident Macron immer mehr in die Klemme.

Die französische Regierung hat kaum übertrieben, als sie das Land vor einer neuen Krawallrunde warnte und alle Bürger und Bürgerinnen mit oder ohne gelbe Warnwesten eindringlich ersuchte, nicht in die Hauptstadt zu kommen, weil dort Chaoten den Protest gegen die Steuerpolitik in einen gewaltsamen Putsch verwandeln wollten. Der Innenminister Christophe Castaner hatte sogar in dramatischen Tönen von einem «Monster, das seinen Erzeugern entwichen ist», gesprochen. In der Tat erlebte Paris wieder einen schwarzen Samstag, noch schlimmer als eine Woche zuvor.
Auch wenn es den Behörden gelungen ist, im Verlauf des Abends auf den Strassen und Plätzen wieder Herr der Lage zu werden, ist die Machtdemonstration der Polizei ein Beweis der politischen Ohnmacht der Staatsführung, die bisher keinen Ausweg aus der Krise gefunden hat. Weder die alarmierenden Warnungen, die Einschüchterungsversuche noch zahlreiche präventive Festnahmen haben Tausende von «Gilets jaunes» davon abgehalten, in die Hauptstadt zu kommen, um auf der Avenue des Champs-Élysées für ihre Kaufkraftforderung und gegen Präsident Macron zu demonstrieren. Dass die Polizei bei den Kontrollen den «Gelbwesten» am Vormittag nicht nur Gegenstände, die eventuell als Waffen genutzt werden könnten, sondern auch einfache Atemschutzmasken oder Skibrillen zum Schutz vor Reizgas wegnahm und Dutzende von Personen den ganzen Tag in Gewahrsam hielt, hat den Zorn zusätzlich gesteigert.
«Leben, nicht nur überleben»
Die offizielle Bilanz spricht am Tag danach für sich: 179 zum Teil gravierend Verletzte und 1350 Festnahmen sowie mehr als 100 verbrannte Autos. Besonders zu denken muss geben, dass dieses Mal nicht nur die Kundgebungen in Paris von Strassenschlachten und Sachbeschädigungen durch Randalierer geprägt waren, sondern dass auch Demonstrationen in Provinzstädten wie in Bordeaux, Marseille, Avignon, Lyon oder Dijon in gewaltsamen Zusammenstössen endeten. Dabei hatte die Staatsführung alles aufgeboten, was ihr an Personal und Material zur Verfügung stand – ohne zum äussersten Mittel eines Militäreinsatzes zu greifen.
Die rund 90'000 Polizisten und Gendarmen, 8000 allein in der Hauptstadt, wurden mit Panzerfahrzeugen verstärkt, die dann auch eingesetzt wurden, und im Verlauf des Samstagsnachmittags galoppierten mitten Paris berittene Polizisten gegen mutmassliche Randalierer.
Auch erste Zugeständnisse der Regierung, auf die ursprünglich für Anfang 2019 angekündigte Erhöhung der Treibstoffabgaben zu verzichten und für ein paar Monate eine Verteuerung der Gas- und Stromtarife auszusetzen, haben die grosse Mehrheit dieser Franzosen und Französinnen in Gelb nicht zu besänftigen vermocht.
«Wir wollen leben, nicht bloss überleben», sagten gleich mehrere von ihnen am Samstag auf den Champs-Élysées, wo die Demonstration zuerst ohne ernsthafte Zwischenfälle verlief. Dann, nach den fast unvermeidlichen Provokationen, schossen die Ordnungskräfte aus vollen Rohren Tränengas und Lärmgranaten und zielten dabei längst nicht immer auf die Randalierer. Am Ende des Tages bot Paris ein trostloses Bild.
«Der Präsident der Reichen»
Wer sind eigentlich diese «Gelbwesten», und wieso ist ihr Protest gleich so rabiat? Sie haben keine repräsentative Führung, keine wirkliche Organisation, sie koordinieren sich fast nur via soziale Netzwerke. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung der traditionellen Politik, der Parteien und Institutionen. In ihren Reihen hat es Anhänger linker und rechter Ideologien, vor allem aber Leute, die nie in der Politik waren und meist nicht oder nicht mehr wählen gehen. Die meisten haben materielle Gründe zum Klagen. Die Politologen erklären, dass letztlich alle, die sich sozial und wirtschaftlich an den Rand gedrängt und politisch bevormundet fühlen, die gelbe Warnweste anziehen können.
Soziologen wie Christophe Guilluy und Alain Touraine bestätigen die Diagnose eines wachsenden Auseinanderdriftens der Gesellschaft: Es gibt ein «Frankreich oben» in der «Metropole», das in und mit der Globalisierung lebt, und ein «Frankreich unten», abseits, auf dem Land und in Vororten, das den Anschluss verpasst und sich dadurch zusehends bedroht fühlt oder bereits unter prekären Bedingungen lebt.
Ein Indiz der Verarmung ist die Statistik der «Restos du cœur», die den Bedürftigen Nahrung verteilen. 1986 bei der Gründung des Hilfswerks durch den Komiker Coluche beanspruchten 70'000 Menschen diese Unterstützung, heute sind es mehr als 900'000. Und was besonders bedenklich ist: Der Anteil der unter 25-Jährigen unter den Hilfsempfängern ist in zwei Jahren von 10 auf 15 Prozent angestiegen.
Die Verfassung der französischen Republik aber verspricht allen Gleichheit, sie legitimiert damit die Revolte gegen Macron. Er ist der «Präsident der Reichen», der zur Modernisierung des Landes auf die Dynamik der bereits Privilegierten setzt und so den Zukurzgekommenen einen Grund für die Revanche liefert. Die ursprünglich für den 1. Januar angesagte Erhöhung der Treibstoffabgaben war dann bloss der Funke am Pulverfass.
Die Revolte als Gewohnheitsrecht
Ein Blick auf die Geschichte der Nachkriegszeit zeigt, dass solche Gewaltausbrüche in Frankreich keineswegs selten sind. Sie entsprechen sogar einem gängigen Klischee der streitsüchtigen Gallier. Man erinnert sich an die Studentenrevolte und Streiks des Mai 68, aber auch die Banlieue-Jugendunruhen von 2005 und viele Demonstrationen, die in harten Zusammenstössen mit der CRS-Ordnungspolizei endeten.
In einem längeren Rückblick auf die Epoche der Bauernaufstände («Jacqueries»), Steuerrevolten wie jene der «Rotmützen» in der Bretagne und erst recht auf die Geschichte der Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 könnte man leicht zum Schluss kommen, dass die gewaltsame Auseinandersetzung eine Konstante und womöglich eine direkte Konsequenz der vertikalen und zentralisierten Machtausübung in Frankreich sein muss.
Die Revolte ist ein historisches Gewohnheitsrecht: «In der Verfassung von 1793 stand das Recht zum Aufstand, wenn die Mächtigen nicht auf das Volk hören», weiss der an der Sorbonne lehrende Michel Pigenet. Im kollektiven Bewusstsein sei davon die Idee geblieben, dass «die Regierenden aufpassen müssen, wenn das Volk sich rührt, andernfalls geht es schlecht aus». Ein anderer Historiker, Olivier Cahn in Tours, bestätigt, dass «die direkte Konfrontation auf der Strasse in Frankreich zur politischen Kultur gehört und mit der Vorstellung verbunden ist, dass so etwas erreicht werden kann».
Danielle Tartakowsky, eine auf die Geschichte von Sozialkonflikten spezialisierte Historikerin, gibt in Les Echos zur Aktualität zu bedenken: «Die Gewalt ist normalerweise ein Ersatz für die zahlenmässige Stärke und entspricht dem Gefühl, schockieren zu müssen, um sich Gehör zu verschaffen. Die heutige Bewegung der ‹Gilets jaunes› kommt nach wiederholten Niederlagen der Gewerkschaften gegen die Arbeitsrechtsrevisionen und die Reform der staatlichen Bahngesellschaft SNCF, was die Vorstellung bestärkt, dass traditionelle Mittel wie Demonstrationen und Streiks nicht mehr genügen.» Als die ersten Aktionen der Gelbwesten kein Gehör fanden, empfanden diese das als «Arroganz» und reagierten entsprechend wütend.
Premierminister als Sündenbock
Nun ist Präsident Macron am Zug. Er hat seinen Premierminister Edouard Philippe an die «Front» geschickt und ihm damit die ganze Verantwortung für die Konfliktlösung aufgebürdet. Vermutlich auch mit dem Hintergedanken, seinen Regierungschef als Sündenbock dem Volkszorn zu opfern, wenn alles schieflaufen sollte.
Das ist eigentlich bereits der Fall. Jetzt kann Macron, der lediglich seine Truppen zu ihrem Ordnungseinsatz beglückwünscht hat, jedenfalls nicht länger schweigen. Heute, spätestens morgen wolle er in einer Rede an die Nation ein Gesamtpaket mit Vorschlägen enthüllen, meinen französische Medien zu wissen.
Mit der Dauer und der Radikalisierung dieser unberechenbaren und unkontrollierbaren Bewegung der «Gilets jaunes» ist der Preis für den sozialen Frieden massiv gestiegen. Die ganze Reformpolitik und namentlich die Sanierung der Staatsfinanzen nach Maastricht-Kriterien drohen wie ein Kartenhaus einzustürzen. Auf der Strecke bliebe dabei auch die politische Glaubwürdigkeit des französischen Staatschefs in der EU.
Unerwartete Seilschaften
Problematisch für ihn ist es, dass sich am Samstag ausser organisierten Aktivisten von links und ganz rechts, welche die Bewegung in ihrem Sinn instrumentalisieren wollen, auch Mittelschüler und Studenten den «Gilets jaunes» anschlossen. Die Jugendlichen protestieren gegen eine Einschränkung der Fächerwahl in den Lycées und die Selektion beim Hochschulzugang. Ein Ende der Woche veröffentlichtes Video, das zeigte, wie in Mantes-la-Jolie die CRS-Ordnungspolizei 148 bei einer unbewilligten Kundgebung festgenommene Minderjährige zwang, mit Handschellen gefesselt oder mit den Händen im Nacken auf dem Boden zu knien, hat für grosse Entrüstung über die «Polizeigewalt» gesorgt.
Erst recht kompliziert kann es für die Staatsführung werden, wenn sich wie am Samstag erstmals Gelbwesten und Umweltschützer, deren Anliegen zum Teil eigentlich fast gegensätzlich anmuten, gegen die Regierung zusammentun. In vielen Städten fand ein «Marsch für das Klima» statt, und viele der Zehntausenden, die daran teilnahmen, zogen als Zeichen ihrer Solidarität mit den sozialen Forderungen ein gelbes Gilet an. In Marseille und in Bordeaux vereinigten sich sogar die Demonstrationszüge. Ein neuer Slogan war zu hören: «Jaune ou vert, même colère!» («Gelb oder grün, die Wut ist dieselbe!»).
Macron und seine Regierung hatten die sukzessive Erhöhung der Abgaben auf Diesel und Benzin, die vor allem auf dem Land bei den Mitbürgern mit langen Arbeitswegen im Auto das Fass des Unmuts zum Überlaufen gebracht hatte, als «Öko-Steuer» mit der notwendigen Energiewende und der Finanzierung der Klimapolitik begründet. Die «grün-gelbe» Konvergenz auf der Strasse dagegen lehnt es ab, die Umweltinteressen gegen soziale Forderungen (und umgekehrt) auszuspielen. Die politische Landkarte Frankreichs scheint in diesen Tagen neu koloriert zu werden.
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