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342 Meter lang, 20 Decks hoch – eine Werft an der Ostsee baut eines der grössten Kreuzfahrtschiffe der Welt.

«Gehen wir in die Halle», sagt Stefan Sprunk. Es sind nur ein paar Schritte aus der Zentrale der MV Werften in Wismar, wobei «MV» für das deutsche Bundesland Mecklenburg-Vorpommern steht. Die Halle ist ein neues Wahrzeichen der alten Hansestadt. 395 Meter lang, 155 Meter breit, 72 Meter hoch, die Fassade in meerartigen Blautönen gehalten, darauf das Firmenlogo. Da drinnen, das weiss jeder in diesem Ostseehafen, wächst Wismars globaler Traum.
Man lässt sich am Wachhaus registrieren, betritt das abgesperrte Areal, setzt einen Helm auf und steht in dem Riesenkasten vor dem enormen Rohbau aus Stahl. Die «Global Dream» wird das grösste Kreuzfahrtschiff, das jemals in Deutschland gebaut wurde. 342 Meter lang, 46 Meter breit, 20 Decks hoch, ein 20-stöckiger Freizeitpark.
9500 Passagiere und 2200 Besatzungsmitglieder werden darauf spazieren fahren. Gemessen an der Belegschaft, wird es sogar das grösste Kreuzfahrtschiff der Welt. «Schon gewaltig, auch für uns», sagt Werftensprecher Sprunk. Er kommt gerade aus dem Wismarer Tourismusbüro. Er muss nun laut sprechen, denn in der Nachmittagsschicht bohren, hämmern und schweissen 1600 Menschen. Die Luft ist dick wie Nebel.
Wie passt das zusammen, 30 Jahre nach dem Mauerfall und in einer Zeit, in der viele die Kreuzfahrten eher für einen Albtraum halten?
Erreicht hatte die «Global Dream» diese ostdeutsche Bucht Ende November 2019. Bei den MV Werften in Rostock-Warnemünde war das 216 Meter lange Mittschiff auf Kiel gelegt worden – mit Livestream in fünf asiatische Städte, weil die MV Werften dem malaysischen Konzern Genting gehören und der Megadampfer für Fernost bestimmt ist. Dann bugsierten Schlepper ihn die Küste Mecklenburg-Vorpommerns entlang in dieses überdachte Trockendock. Tausende Zuschauer staunten, danach schlossen sich die Tore. Seither sind Ingenieure und Handwerker damit beschäftigt, den Giganten bis nächstes Jahr ganz zusammenzubauen.
«Global Dream», Asien, Wismar. Wie passt das zusammen, 30 Jahre nach dem Mauerfall und in einer Zeit, in der viele die Kreuzfahrten eher für einen Albtraum halten? Etwa 20 Gehminuten entfernt schwärmt Thomas Beyer im klassizistischen Rathaus. «War ‘n tolles Ereignis», sagt der Bürgermeister und erzählt, wie das Teilstück der «Global Dream» in Wismar andockte. «Für uns ist das auch 'ne emotionale Geschichte», die Worte hallen im hohen Saal.
Werft von den Sowjets gegründet
Draussen liegt der historische Marktplatz, die sanierte Altstadt mit ihrer Backsteingotik ist Unesco-Weltkulturerbe. Um die Ecke steht das Stammhaus der Warenhauskette Karstadt; der Gründer stammte aus der Gegend. Flugzeuge und Waggons wurden auch in Wismar montiert, aber das Herz war immer der Hafen. Hinter Kuttern mit Fischbrötchen ist die Replik einer Kogge vertaut. Thomas Beyer sagt, in Wismar habe fast jede Familie irgendwie mit dem Schiffbau zu tun; es gehöre hier zur DNA.
Der SPD-Politiker Beyer (59) erlebt das Auf und Ab seit Jahrzehnten. Die Sowjets hatten Wismars Werft gegründet, anfangs war es die «VEB Mathias-Thesen-Werft», vor der Wende gab es im volkseigenen Betrieb 7000 Jobs. Der deutsche Bundesnachrichtendienst und der britische MI 6 spionierten. Die Geheimpapiere sind im Stadtmuseum zu besichtigen. Ebenso Modell und Speisekarte der «Fritz Heckert», eines sehr entfernten Vorläufers der «Global Dream».
In Wismar hat fast jede Familie irgendwie mit dem Schiffbau zu tun; es gehört hier zur DNA.
Die «Fritz Heckert», benannt nach dem Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands, lief 1960 in Wismar vom Stapel, als einziger Kreuzfahrtneubau der DDR. Zum Mittagessen auf der Reise nach Riga gab es 1965 Nierengulasch mit Kartoffelstock oder Leberknödel mit Kohl und Salzkartoffeln.
Die Werft hatte früher ihre eigene Entbindungsstation, doch im Kapitalismus folgte erst eine Pleite der nächsten. Zuletzt scheiterte die ehemalige VEB-Werft als «Nordic Yards» des Moskauers Witali Jussufow, des Sohns von Putins früherem Energieminister Igor Jussufow. Sein Offshore-Geschäft misslang. 2016 übernahm Genting aus Hongkong und Malaysia.
Die Unternehmensgruppe betreibt Casinos, Resorts und eben Kreuzfahrtschiffe. Die Asiaten erwarben die drei Werften in Wismar, Stralsund und Rostock und machten sie zu den MV Werften, Wismar wurde das Zentrum. Bürgermeister Beyer war erst skeptisch, aber spätestens der Auftritt der Besitzer um Tan Sri Lim Kok Thay in der Bürgerschaft überzeugte ihn. Nun sagt er: «Die haben wirklich Wort gehalten.»
Bei seinen MV Werften baut sich Genting seine eigenen Kreuzfahrtschiffe, vor allem für den boomenden Heimatmarkt im Grossraum von China. Global Class mit Disco, Shoppingmall und Vergnügungspark wie die «Global Dream» und die Global 2; ihr Wert: jeweils um die 1,5 Milliarden Euro. Ende vergangenen Jahres wurde obendrein der Bau der Reihe Universal Class für 2000 Passagiere verkündet. Dazu entsteht die Endeavor-Serie, «die weltgrössten Megajachten mit Eisklasse», wie es heisst – Schiffe also, die für Polarfahrten geeignet sind. Bereits ausgeliefert wurden Flusskreuzfahrtschiffe. «Toll», sagt der Sozialdemokrat Beyer. «Eine Chance.»
Die Emissionen von Kreuzfahrttouristen seien nur für einen Bruchteil der Schadstoffe auf See verantwortlich. Die Technik werde sauberer.
Am Columbus-Cruise-Center sollen immer mehr Kreuzfahrtschiffe anlegen. Die ausgemusterte «Superstar Libra» liegt seit Wochen am Ufer, dort wohnen Arbeiter der «Global Dream». Schwimmende Kleinstädte als Rettung für denkmalgeschützte Hansestädte? Bei Umweltschützern geniesst der Geschäftszweig einen weniger guten Ruf. «Hinter den Kulissen stinkt es im wahrsten Sinne des Wortes gewaltig», schreibt der Naturschutzbund (Nabu) über die Kreuzfahrtbranche. Gerade die wachsende Zahl der sogenannten Traumschiffe habe grossen Anteil daran, dass jene Naturschätze in Gefahr seien, die Touristen so lieben.
In Wismar kennen sie die ökologischen Bedenken, klar, sie nehmen sie auch ernst. Doch sie treten hier ähnlich zurück wie politische Bedenken weiter östlich in Wolgast, wo der Exportstopp für Patrouillenboote nach Saudiarabien einer lokalen Katastrophe gleichkam. «In unserer Stadt gibt es eine riesige Akzeptanz für die Werft», sagt Bürgermeister Beyer. Es geht um Jobs, Tradition, Zukunft. Um Schiffe, für weit weg.
Bald mit Flüssiggas angetrieben
Die Emissionen von Kreuzfahrttouristen seien nur für einen Bruchteil der Schadstoffe auf See verantwortlich. Die Technik werde sauberer. Das sind die Argumente. Die «Global Dream» wird mit Diesel angetrieben, aber laut MV Werften gemäss aller Normen. Künftige Schiffe sollen mit Flüssiggas fahren. Die Stadt baut derweil Strassen, erschliesst Gewerbegebiete, vertieft den Hafen: Die Schiffsindustrie braucht Platz.
Thomas Beyer hofft, dass die Wismarer die Wanderarbeiter aus Osteuropa akzeptieren. Mehrmals informierte er sich bei der Meyer-Werft in Papenburg im Emsland, wo sie lange Erfahrung mit Kolossen für die Ozeane haben. Man steigt jetzt im Wismarer Dock eine Eisentreppe empor, leichter Schwindel, aber bester Blick auf die «Global Dream». Der Bug liegt noch daneben. «Wollen Sie mal rauf aufs Schiff, fürs Gefühl?», fragt PR-Mann Sprunk. Es geht über eine Baustellen-Gangway auf Deck 4, hinauf bis auf Deck 8, zwischen Kabeln, Plänen, Funken. Hightech für asiatische Wasserferien.
Noch in diesem Jahr soll die «Global Dream» am offenen Quai Schornstein, Achterbahn und Badelandschaft bekommen; für die Aufbauten reicht selbst diese Halle nicht. Draussen wurde eigens ein 125-Meter-Kran angeschafft, und die Poller wurden so fest in den Boden gerammt, dass Wismar zitterte. Auf vier Schiffe dieser Art könnte man sämtliche Bewohner packen, aber im kommenden Jahr wird der erste «globale Traum» die Hansestadt verlassen, Kurs Asien. Sprunk stellt sich eine Party mit Live-TV vor, wenn die «Global Dream» ablegt. Es wird wieder ein Weltereignis für Wismar, Werft und Bürgermeister.
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