Kinder, esst, was ihr wollt!
Ein Ernährungswissenschaftler gibt in einem Buch grünes Licht für Pizza, Pommes & Co.

Eltern wissen, was der bevorzugte Speiseplan ihrer Kinder ist: Spaghetti, Pizza, Pommes frites, Chicken Nuggets – dazu Unmengen Cola, Schokolade und Glace. Weil Mama und Papa immer wieder mal dem Drängen des Nachwuchses nachgeben und ihm seine Lieblingsspeisen durchgehen lassen, plagt sie ein schlechtes Gewissen. Denn das, was Kinder am liebsten essen, gilt fast durchwegs als ungesund. Es enthält angeblich zu viel Fett, zu viele Kalorien und zu viel Zucker.
Besser für ihre Kinder – so glauben zumindest die meisten Väter und Mütter – wären Gemüse, Früchte und Vollkornprodukte. Doch auch nach dem hundertsten Appell mag das Vierschrotkornbrot den Kleinen genauso wenig schmecken wie der Brokkoli und der Sellerie. Chips-Packungen locken sie einfach stärker als selbstgekochte Suppe.
Unsere Kinder essen zu viel und bewegen sich zu wenig – darum werden sie immer dicker. Das zumindest hämmern Präventionsfachleute der Bevölkerung pausenlos in den Kopf. Eine Plakatkampagne der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz zeigte überdimensionale Davoser Schlitten und Kindervelos mit XXL-Sitzen. «Die Schweiz wird immer dicker», lautete die Warnung. Die Seite familienleben.ch listet Tipps auf, wie Eltern ihre Kinder beim Abnehmen unterstützen können: «Verkleinern Sie die Portionen oder tischen Sie kleinere Teller»; «Wenn Sie das Essen selbst frisch zubereiten, wissen Sie genau, was in den Topf kommt»; «Sie sollten feste Fernseh- und Computerzeiten einführen».
Kinder essen intuitiv richtig
Auch der Kampf gegen zu lange Fernseh- und Handyzeiten gehört angeblich zu den Pflichten von Vater und Mutter, um ihren Nachwuchs schlank zu halten. «Studien zeigen: Je mehr Zeit die Heranwachsenden täglich vor der Glotze verbringen, desto stärker fällt das Übergewicht aus», behauptete die Zeitschrift Beobachter.
Total falscher Alarm. Das ist das Credo des deutschen Ernährungswissenschaftlers Uwe Knop. In seinem Buch «Kind, iss was … dir schmeckt!» rät er zur Gelassenheit, was die Ernährung Minderjähriger angeht. «Kinder wissen, was gesund für sie ist», schreibt Knop – denn: «Ihr Ess-Instinkt wurde noch nicht von Ernährungspropaganda verdorben.» Eltern könnten den Kleinen ihre Pizza, Burgers und Süssgetränke ruhig durchgehen lassen, wenn diese danach verlangen. «Gesund ist das, was die Kinder gerne und mit Genuss essen», so der Autor. Denn der Nachwuchs habe eine «unverdorbene kulinarische Körperintelligenz»: «Alles, was Kindern nicht schmeckt, kann aus evolutionsbiologischen Gründen nicht gesund sein – denn ihr sensibler, heranwachsender Körper lehnt es ab.» Knop weist darauf hin, dass wissenschaftliche Beweise, welches Essen für Kinder und auch für Erwachsene gesund ist und welches nur dick macht, weitgehend fehlen. Die Ernährungswissenschaften könnten dazu höchstens «Vermutungen, Hypothesen und Spekulationen» liefern. Es werde zwar viel geforscht. Fast immer könnten dabei aber höchstens statistische Zusammenhänge generiert werden, aus denen sich bei Weitem noch keine ursächlichen Wirkungen ableiten liessen, schreibt der Autor.
Wenn in einer Studie etwa beobachtet werde, dass Leute, die viel Frikadellen und Wurstbrote essen, häufiger als andere an Zuckerkrankheit litten, sei das noch lange kein Beweis, dass der Konsum verarbeiteter Fleischprodukte das Diabetesrisiko erhöhe. Zudem, so der Autor weiter, gebe es regelmässig Studienresultate, die den angeblichen Gewissheiten über gesunde Kindernahrung völlig entgegenstünden.
Knop zitiert etwa eine Studie, gemäss der Kinder, die wenig Schokolade essen, doppelt so häufig an Diabetes erkranken wie Kinder mit hohem Schokoladenkonsum. Eine andere Studie, die sich auf 200 000 Kinder aus 36 Ländern abstützte, kam zum Schluss, dass Jugendliche mit häufigem Fastfood-Konsum einen niedrigeren Body-Mass-Index haben als Altersgenossen, die wenig Burger & Co. essen.
Lesen in der Glaskugel
«Ernährungsforschung gleicht dem Lesen einer Glaskugel», schreibt Knop – und bekommt dabei Unterstützung von anderen Forschern: Die Ernährungswissenschaften seien in einer «bemitleidenswerten Lage», meint Gerd Antes, Direktor des Cochrane Zentrums Deutschland am Universitätsklinikum Freiburg: «Studien in diesem Bereich sind von vielen unbekannten oder kaum messbaren Einflüssen abhängig. Deswegen gibt es immer wieder völlig widersprüchliche Ergebnisse.»
Ähnlich lässt sich Jürgen König zitieren, Leiter des Departements für Ernährungswissenschaften an der Universität Wien: Die Forschung könne bis heute «keine schlüssigen Studien für die optimale Ernährung» vorlegen.
Auch das Bundesamt für Statistik schrieb in einer Publikation zu Übergewicht und Adipositas: «Der Zusammenhang zwischen Früchte- und Gemüsekonsum und zu hohem Körpergewicht ist eher schwach.» Zudem gebe es Hinweise darauf, «dass körperliche Betätigung nur bedingt zur Gewichtsreduktion beiträgt».
Wer glaubt, die Zahl der übergewichtigen Kinder nehme laufend zu, liegt falsch. Laut einer Erhebung der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz ist das Gegenteil richtig: Der Anteil der dicken Kinder ging in den letzten zehn Jahren deutlich zurück. 2017 trugen 16,4 Prozent der Schulkinder zu viel Gewicht mit sich herum. Das war über ein Sechstel weniger als elf Jahre zuvor (19,9 Prozent). Im Grossen und Ganzen stabile Zahlen meldet die ETH Zürich: Demnach lag der Anteil der übergewichtigen Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren 2012 bei rund 19 Prozent – etwa gleich hoch wie 1999.
Lockerer Umgang mit Fakten
Dennoch schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Netz: «Die Zahl der übergewichtigen Erwachsenen und Kinder in der Schweiz ist in den letzten Jahren stark gestiegen.» Ist diese Behauptung, was Kinder angeht, nicht ein Widerspruch zu den Zahlen? «In der Gesamtbevölkerung muss von einer Zunahme gesprochen werden», schreibt das BAG auf Anfrage, «bei Kindern kann die Aussage je nach Datenquelle variieren, dies führt zu diesem ‹Widerspruch›.» In Bundesbern pflegt man offenbar einen lockeren Umgang mit Fakten.
Die Schweiz ist kein Sonderfall. Auch in anderen europäischen Ländern ist die Zahl dicker Kinder rückläufig. So kam etwa in Deutschland die Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin zum Schluss, dass Übergewicht und Adipositas bei Kindern in den letzten Jahren um einige Prozente zurückgegangen sind. Und laut Idefics, der grössten europäischen Studie zu Übergewicht bei Kindern, gibt es in europäischen Ländern in allen Bevölkerungsschichten mehr untergewichtige als fettleibige Kinder.
An den Präventions- und Behandlungsprogrammen liegt es jedenfalls kaum, dass es in der Schweiz und in anderen Ländern immer weniger dicke Kinder gibt. «Juvenile Abspeckprogramme sind schon seit Jahren reine Rohrkrepierer ohne jeglichen Erfolg», stellt Buchautor Knop fest.
Kontraproduktive Diätprogramme
Skeptisch ist auch Martin Wabitsch, Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie an der Universitätsklinik für Kinder und Jugendmedizin Ulm, was die gezielte Behandlung von Übergewicht angeht. «Für Jugendliche mit extremer Adipositas gibt es bislang kein überzeugendes, wissenschaftlich-basiertes Behandlungs- und Betreuungskonzept – weder in Deutschland, noch in anderen Ländern», sagte er.
Offenbar kann Prävention gegen Fettleibigkeit sogar kontraproduktiv wirken: Im Rahmen der Idefics-Studie wurden Eltern in verschiedenen europäischen Ländern motiviert, zu Hause Massnahmen gegen Übergewicht bei Kindern umzusetzen. Am Ende dieses Prophylaxe-Programms lag der Anteil der zu dicken Kinder mit 24 Prozent aber höher als zu Beginn (19 Prozent).
Wenn Präventionsprogramme auf Diäternährung abzielen, schaden sie unter Umständen sogar. Diäten seien die «Einstiegsdroge in Essstörungen», so Ernährungswissenschaftler Knop. «Am Anfang einer Essstörung steht meist eine Diät», sagt auch Andrea Reitz vom Frankfurter Zentrum für Essstörungen. Fakt ist, dass eine Magersucht oder eine Bulimie viel öfter tödlich endet als starkes Übergewicht.
2014 kritisierte das Experten-Netzwerk «Essstörungen Schweiz» die Programme gegen Übergewicht bei Kindern. Das Netzwerk hatte deren Wirksamkeit untersucht. «Die Befunde zeigen, dass Präventionskampagnen, die eine Verbesserung des Essverhaltens von Kindern und Jugendlichen zum Ziel haben, nichts bringen», hielt Netzwerk-Präsidentin und ETH-Dozentin Erika Toman in der NZZ am Sonntag fest. Die Problematisierung von Ernährung im Kindesalter könne sogar erst recht zu einer Essstörung führen. «Die meisten Kampagnen fokussieren aber nur auf Übergewicht», so Toman. Essstörungen seien jedoch schädlicher als leichtes Übergewicht, von dem man heute sogar wisse, dass es die Lebenserwartung eher erhöhe.
Ungeachtet dessen macht sich der missionarische Eifer gegen Fett, Pommes frites & Co. vor allem an den Schulen breit. In einem Lehrmodul der gemeinnützigen Organisation Nutrikid, das von der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung empfohlen wird, wird bereits fünf- bis siebenjährigen Kindern beigebracht, wie lange sie Velo fahren müssen, um nur schon den Energiegehalt eines Apfels zu verbrennen. Und in der Nutrikid-Unterrichtseinheit «Pause beim Essen» für Zehn- bis Zwölfjährige lauten die Lernziele unter anderem, dass die Kinder «einen gesundheitsförderlichen Mahlzeiten-Rhythmus entwickeln», dass sie «fähig sind, zwischen echtem Hunger und Essenlust zu unterscheiden», und dass sie «formulieren können, wie sich Hungergefühl und Sättigung anfühlen».
Noch weiter geht das Schulnetz 21, ein vom Bund finanziertes Netzwerk von 1800 Volksschulen, die sich verpflichtet haben, eine «gesunde Schule» zu sein: Hier werden bei der Umerziehung auch die Eltern einbezogen. So müssen die Lehrer dieser Schulen im Blick behalten, welches Essen die Kinder für ihre Pausenverpflegung mitbringen. Hat ein Kind regelmässig angeblich Ungesundes wie Chips und süsse Getränke dabei, müssen die Lehrer die Eltern kontaktieren und diese ermahnen.
Steuer auf Produkte mit Zucker
Möglicherweise geht die Programmierung der Bevölkerung auf angeblich gesundes Essen bald noch weiter. 2016 hat die Weltgesundheitsorganisation empfohlen, zuckerhaltige Getränke mit einer Sondersteuer von mindestens zwanzig Prozent zu belasten. Eine Standesinitiative des Kantons Waadt zur Einführung einer Zuckersteuer in der Schweiz war zwar kürzlich im Ständerat chancenlos. Die Waadt aber will sie einführen. Wetten, dass bald auch andere Kantone nachziehen?
Dabei sei es für Heranwachsende wichtig, genügend Kalorien zu bekommen, schreibt Ernährungsfachmann Knop in seinem Buch: «Kinderkörper benötigen zur biologischen Weiterentwicklung primär Energie, die gesundes, ungestörtes Wachstum ermöglicht: Eiweiss, Fett und Kohlenhydrate.» Man darf also durchaus ein gutes Gefühl haben, wenn Kinder das nächste Mal herzhaft in einen Burger beissen und dazu Cola trinken.
Uwe Knop: «Kind, iss was … dir schmeckt!», Plassen Verlag, Kulmbach, 2017. S. 176, ca. Fr. 19.–.
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