
Der Beschluss des Grossen Rates und der Entscheid der Basler Regierung, den afghanischen Jugendlichen A. nicht nach Österreich auszuschaffen, wirft hohe Wellen. Serkan Abrecht schreibt in der BaZ vom 12. Juni 2019, dass die Basler Regierung «geltendes Bundesrecht ignoriert». Dies trifft aus folgenden Gründen nicht zu:
Die Petitionskommission hat sich nach Anhörung des Betroffenen und Einsicht in seine ärztlichen Berichte überzeugt, dass der schwersttraumatisierte A. für den Fall einer Ausschaffung nach Österreich akut suizidgefährdet ist. Artikel 69 Absatz 4 des Ausländer- und Integrationsgesetzes eröffnet der kantonalen Vollzugsbehörde einen Ermessensspielraum. Sie kann die Ausschaffung um einen angemessenen Zeitraum aufschieben, wenn besondere Umstände wie gesundheitliche Probleme oder fehlende Transportmöglichkeiten dies erfordern. Die Regierung macht somit bei ihrem Entscheid von dem ihr rechtmässig zustehenden Ermessensspielraum Gebrauch. Von einem Rechtsbruch kann keine Rede sein.
Im Einklang mit den Menschenrechten
Hinzu kommt Folgendes: Eine elementare Erkenntnis aus den Gräueln des Zweiten Weltkrieges ist, dass im Rechtsstaat zentralste Menschenrechte vorgehen müssen. Die Schweiz hat sich mit der Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verpflichtet, niemanden einer unmenschlichen Behandlung zu unterziehen. Die Ausschaffung eines schwer suizidgefährdeten Menschen verletzt dieses in Artikel 3 der EMRK statuierte Menschenrecht. Die Regierung hat somit im Einklang mit den Menschenrechten gehandelt, wenn sie den afghanischen Kindersoldaten A. im Vollzugsstadium von der konkreten Gefahr eines Suizids beschützt hat. Dies entspricht auch Artikel9 der Bundesverfassung (BV), der eine Rechtsanwendung dann als willkürlich und somit falsch bezeichnet, wenn sie in einem stossenden Widerspruch zum Gerechtigkeitsgedanken steht (vgl. Häfelin/Müller/Uhlmann, S.111, N. 525).
Humanitäre Ermessensspielräume bestehen auch in der Dublin-III-Verordnung. Gemäss Artikel 17 Absatz 1 dieser Verordnung kann jeder Mitgliedstaat ein sogenanntes Selbsteintrittsrecht ausüben. Die Regierung hat den Bund aufgefordert, von diesem Selbsteintrittsrecht aus humanitären Gründen Gebrauch zu machen. Die Regierung hat dabei darauf hingewiesen, dass es sich bei A. wahrscheinlich um einen Minderjährigen handle und er durch seinen von den Iranern erzwungenen Einsatz als Kindersoldat schwerst traumatisiert sei, und dass er stationär habe behandelt werden müssen. Von der Missachtung eines Gerichtsentscheides durch die Basler Regierung kann unter diesen Umständen nicht die Rede sein. Es ist das Recht der Regierung, vom Bund die Ausnützung des dem Amt zustehenden Ermessensspielraumes zu verlangen.
Dazu muss man wissen, dass das Bundesverwaltungsgericht aus formellen Gründen in seinem Urteil vom 4. Dezember 2018 nicht geprüft hat, ob das Staatssekretariat für Migration (SEM) angemessen handelte, als es im Falle von A. auf das Selbsteintrittsrecht verzichtet hat. Es hat im Übrigen auch auf eine Methode bei der Altersbestimmung (Handknochenanalyse) abgestellt, die von medizinischen Experten als untauglich erachtet wird und die aktuell vom SEM selber nicht mehr praktiziert wird.
Nach wichtigen Grundsätzen der Verfassung und der EMRK
Dass aus humanitären Gründen auf den Vollzug einer Wegweisung verzichtet wird, ist nichts Neues und bei jeder Regularisierung eines Sans-Papiers der Fall. In Basel-Stadt besteht dafür eine Härtefallkommission. Eine solche fehlt auf Bundesebene. Damit sich solche Fälle nicht wiederholen, wäre es sinnvoll, auf Bundesebene eine Härtefallkommission einzurichten, welche den Bund bei der Ausübung der Ermessensklausel der Dublin-III-Verordnung berät.
Die Regierung hat sich im vorliegenden Fall somit nicht über geltendes Recht gestellt, sondern nach wichtigen Grundsätzen der Verfassung und der EMRK gehandelt. Der Umgang mit Flüchtlingen liegt nicht nur in der Kompetenz des Gesetzgebers und der Gerichte. Für die Umsetzung und den Vollzug der Gesetze ist die Exekutive zuständig, und daher liegt es letztlich in ihrer Kompetenz und Verantwortung, eine Ausschaffung zu vollziehen oder eben nicht.
Die Regierung hat insofern im Einklang mit den Schweizer Gesetzen und ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen gehandelt, indem sie vorläufig auf den Vollzug des Entscheides des Bundesverwaltungsgerichts verzichtet hat. Zudem darf nicht vergessen werden, dass im vorliegenden Fall die Regierung nicht entschieden hat, ob A. in der Schweiz bleiben darf, sondern einzig und allein, dass das Asylverfahren in der Schweiz durchgeführt wird. Das ist weder frech noch arrogant, sondern aufgrund der konkreten Gegebenheiten des Falles der einzig richtige Entscheid.
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Kein Rechtsbruch der Basler Regierung
Replik zu «Schwierige und falsche Entscheidungen» vom 12. Juni über die Nicht-Ausweisung eines afghanischen Jugendlichen.