Wochenduell: Neues TennistalentKann Carlos Alcaraz so dominieren wie Federer, Nadal und Djokovic?
Der erst 19-Jährige bricht Rekorde und lässt den Grössten des Sports keine Chance. Fürs French Open gilt er bereits als Mitfavorit. Ist der Hype um den Spanier gerechtfertigt?

Ja: Carlos Alcaraz’ Spiel ist von einer derartigen Leichtigkeit und Variabilität geprägt, dass es den Gegnern schwerfällt, das richtige Rezept zu finden
Carlos Alcaraz räumte bei seinem Triumph in Madrid die ganz Grossen aus dem Weg: zuerst Rafael Nadal, dann Novak Djokovic – und im Final Alexander Zverev. Drei Top-4-Spieler innerhalb eines Turniers zu besiegen, das gelang zuletzt dem Argentinier David Nalbandian vor 15 Jahren. Ihm wurde damals zugetraut, zu den Dominatoren Federer, Nadal und Djokovic aufschliessen zu können, doch bedauerlicherweise kreuzten mehrere Verletzungen Nalbandians Weg. Wenn Alcaraz hingegen von körperlichen Rückschlägen verschont bleibt, dann gehört die Zukunft dem 19-jährigen Spanier.
So ist es erstaunlich, in welch mentaler Verfassung sich Alcaraz bereits im jungen Alter befindet. Sein Spiel ist von einer derartigen Leichtigkeit und Variabilität geprägt, dass es seinen Gegnern schwerfällt, gegen ihn das richtige Rezept zu finden. Der Spanier scheint auf jeden Angriff die passende Antwort parat zu haben. Seine Vorhand ist gleich stark wie seine Rückhand. Obwohl er gegen Djokovic und Nadal in Madrid über drei Sätze gehen musste, behielt er am Ende die Oberhand. Und das ist in diesen Zermürbungskämpfen gegen die mentalen Meister des Männertennis eine äusserst beachtliche Leistung.
Ein weiteres Indiz seiner bereits ausserordentlichen psychischen Funktionsfähigkeit: Von den fünf Finals, die er bislang auf Profiebene bestritt, hat er alle gewonnen. Neben Madrid holte er sich erst kürzlich den Sieg am ATP-500-Sandplatzturnier in Barcelona. Wenn momentan einer in der Lage dazu ist, den lang regierenden Roland-Garros-König Rafael Nadal vom Thron zu stossen, dann er.
Und wenn Alcaraz erst mal auf diesem Thron sitzt, dann wird es zukünftig schwer sein, ihn davon zu verdrängen. Federer wird im August 41, Nadal im Juni 36 und Djokovic in zwei Wochen 35. Ihre Tage sind irgendwann gezählt. Es stellt sich also die Frage, wer nach dieser Zeit mit Alcaraz konkurrieren wird. Der Russe Daniil Medvedev wird derzeit eher mit seiner Staatszugehörigkeit konfrontiert als mit seinen Gegnern auf dem Platz. Alexander Zverev spielt zu unbeständig und wartet daher noch auf einen Grand-Slam-Titel. Und der Österreicher Dominic Thiem befindet sich seit seinem US-Open-Titel 2020 immer noch in einem mentalen Loch, aus dem er nur schwer herauszukommen scheint. Somit könnte tatsächlich ein neuer langjähriger Dominator am Horizont des Männertennis erscheinen. Daniel Schmidt
Nein: Alcaraz’ Triumph in Madrid zeigt vor allem, wie schlecht es im Moment um das Männertennis bestellt ist
Der Name Carlos Alcaraz ist zurzeit in aller Munde. Als jüngster Spieler in der Geschichte der ATP-Tour gelang es dem jungen Spanier in Madrid, an einem einzigen Turnier gleich drei Spieler aus den Top fünf zu bezwingen: zunächst im Viertelfinal die Weltnummer 4, Rafael Nadal, danach den Führenden, Novak Djokovic, und im Final schliesslich den Titelverteidiger und Weltranglistendritten Alexander Zverev. Es ist dies ein schöner Erfolg, aber zugleich einer, den es zu relativieren gilt.
Nadal, der schon 2021 die halbe Saison wegen einer Fussverletzung verpasst hatte, kam eben erst aus einer sechswöchigen Zwangspause zurück; Djokovic musste in diesem Jahr aus anderen, wohlbekannten Gründen auf Spielpraxis verzichten, und Zverev ist sowieso nicht gerade die Beständigkeit in Person, zog im Final einen rabenschwarzen Tag ein und beklagte sich im Anschluss an die Partie über den skandalösen Madrider Spielplan. Kurz: Alcaraz’ Triumph in Madrid ist zwar unbestritten ein Beweis seines grossen Talents. Aber noch viel mehr ist er Ausdruck davon, wie schlecht es im Moment um das Männertennis bestellt ist.
Die alte Garde klammert sich mit aller Kraft an den Thron, die jungen Spieler sind zu unbeständig, um daran etwas ändern zu können. Es ist immer das gleiche Schauspiel, und es fängt an, zu langweilen. Fans, Medien und Turnierveranstalter hoffen daher schon seit Jahren auf einen neuen Stern am Tennishimmel.
Dementsprechend gross ist jeweils der Hype, wenn ein neuer Name am Horizont erscheint. Erst war es Zverev, dann Stefanos Tsitsipas und jetzt eben Alcaraz. Aus Zverev und Tsitsipas wurden sehr gute Tennisspieler, aber keine Ausnahmeerscheinungen. Das Gleiche kann auch Alcaraz widerfahren. Denn der Spanier ist jung, sehr jung, steht mit seinen 19 Jahren erst in den Anfängen seiner Karriere. Wie und ob er sich künftig entwickeln wird, ist völlig unklar.
Zurzeit hat der Spanier neben Talent vor allem eines: einen Lauf. Vom Madrider Heimpublikum getragen, gelang ihm praktisch alles. Doch um ein Champion zu werden, muss man auch dann gewinnen, wenn es mal nicht so gut läuft. Ob Carlos Alcaraz dazu in der Lage ist, wird sich erst noch zeigen müssen. Darius Aurel Meyer
* Das Wochenduell: Die «Basler Zeitung» stellt sich ab sofort in regelmässigem Abstand Themen, welche die Sportwelt bewegen – und beleuchtet dabei in einem Pro und Kontra beide Seiten. Zuletzt erschienen: Ist die Formel 1 so spannend wie seit 20 Jahren nicht mehr? Ist es gut für den Sport, wenn die zwei wichtigsten Titel nach Zürich gehen? Sollen Bodychecks im Eishockey verboten werden? Gewinnt Tiger Woods nochmals ein Major-Turnier? Braucht die Super League diese Modusänderung?
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