Kampftrinken «für eine beschwipste Türkei»
Aus Protest gegen den Einfluss von Islamisten trinken junge Türken demonstrativ Alkohol – auch im Fastenmonat Ramadan

Während der Mond das Lokal auf dem Pier in silbernes Licht taucht, entzünden sie Kerzen. Sie halten sich an den Händen, singen Lieder: «Tayyip, der Pier von Moda ist eng. Die Jugend von Moda sind Helden, sie lassen dich nicht passieren.» Ein alter Revolutionsmarsch, dem sie neue Verse verpasst haben. Verse, die auf Tayyip Erdogan zielen, den Premier.
Trinken für die Freiheit
«Die alkoholische Bewegung hält keiner auf», ruft einer. Das ist Safak Tanriverdi. Er hält eine Dose Efes in der Hand, das Nationalbier der Türkei. Ein Akt der Poesie und der Rebellion, wenn wir ihn richtig verstehen. Denn dazu haben sie sich hier versammelt, auf der Uferstrasse des schicken Istanbuler Vororts Moda: Sie trinken für die Freiheit. Für die Demokratie. «Unser Vaterland blutet», sagt ein Redner: «Möge das Licht zurückkehren.»
Günstig – und alkoholfrei
Passiert ist nämlich Folgendes: Auf dem Pier von Moda steht seit mehr als 90 Jahren ein kleines Lokal, malerisch ins Marmarameer hineingebaut. Vor kurzem übernahm die städtische Gesellschaft «Beltur» das Lokal. Warum das ein Problem ist? In Beltur-Restaurants wird kein Alkohol ausgeschenkt. So will es die Stadt Istanbul, die von der AKP regiert wird, der Partei von Premier Erdogan. Der Bürgermeister Kadir Topbas beteuert, die AKP wolle nichts anderes als preiswerte Lokale schaffen, die auch ärmere und religiösere Familien besuchen könnten. Manche dieser Familie seien früher nie ausgegangen, weil sie grundsätzlich Orte meiden, an denen Alkohol ausgeschenkt wird. Davon abgesehen gebe es in Istanbul noch Tausende von Kneipen, in denen Bier und Raki strömten, es sei also masslos übertrieben, von einer islamisch motivierten Kampagne gegen Alkohol zu sprechen.
Tatsächlich ist der Alkoholkonsum in der Türkei in den sechs Jahren AKP-Regierung stark angestiegen. Die Gegner trauen der AKP dennoch nicht über den Weg: Höhere Alkoholsteuern, mehr und mehr alkoholfreie Restaurants – für sie sind das Menetekel.
Deshalb also stehen sie hier jeden Freitagabend. Der Fastenmonat Ramadan ist ihnen eher Ansporn. «Der Kampf für den Laizismus beginnt hier», ruft der Redner in den Abendhimmel. Ihr Efes, ihr Raki, ihr Rotwein, für die in Moda Versammelten sind das Symbole. Noch mehr, seit sie sich von Erdogan verunglimpft fühlen. Der Premier hatte die Demonstranten von Moda wissen lassen, sie sähen die Welt «durch den Flaschenboden», im Übrigen seien die eigentlich Diskriminierten in der Türkei seine Leute: «Hier steht unter Druck, wer nicht trinkt.»
Die Protesttrinker von Moda sind nicht die üblichen Alt-Kemalisten, die Erdogan sonst ans Leder wollen. Unter den heute vielleicht Hundert, die sich eingefunden haben, sind viele junge Leute, Linke, Langhaarige, Kunststudenten wie Ümit, Murat und Sanad, die ein Unbehagen an den Regierenden plagt, denen sie ihren Neoliberalismus ebenso vorwerfen wie ihre Bigotterie.
Atatürk, das grosse Vorbild
«Lang lebe die alkoholische Internationale!», steht auf einem Plakat. «Für eine beschwipste Türkei», auf einem anderen. «Den Slogan hab ich erfunden», sagt Student Safak Tanriverdi stolz. Ein Dutzend Polizisten bewacht den Eingang zum Lokal. «Die sind eigentlich auch Volk», sagt eine Kerzenträgerin. «Nichttrinkendes Volk», korrigiert sie ihr Freund.
Die letzte Dose ist geleert, die letzte Parole gerufen. Die Menge bricht auf. Oben am Hügel eine Büste von Atatürk, dem Vater der Republik, der 1938 an einer Leberzirrhose starb. Er hatte den Raki geliebt. «Erhabene Jugend!», steht auf der Plakette: «Wir haben die Republik gegründet. Durch euch lebt sie fort.» Ein Taxifahrer beobachtet den Zug der Demonstranten: «Schon komisch», sagt er: «Als es in dem Laden noch Alkohol gab, ist nie einer hingegangen.»
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