«Jörg ist doch kein Raser!»
Weil er beim Überholen eines Traktors mit einem Lastwagen kollidierte, muss ein Autofahrer seiner Versicherung über 22 000 Franken zahlen. Nach Ansicht von Experten kommt er damit noch gut weg.
Von Thomas Müller Diese Situation kennt jeder Autofahrer, jede Autofahrerin: Man fährt in einer Kolonne hinter einem langsamen Fahrzeug, wird ungeduldig, die Vorderleute überholen, dann setzt man selber zum Überholen an. Meist geht alles gut. Nicht so am 25. Oktober 2010 kurz nach sechs Uhr früh auf der Strasse zwischen Embrach und Pfungen ZH. Jörg Kasserra war im Kleinwagen Nissan Micra seiner Partnerin Fabienne Unger unterwegs zur Arbeit. Er war etwas spät dran. Vor ihm fuhren zwei Personenwagen, zuvorderst ein Traktor mit zwei Anhängern, gefüllt mit Zuckerrüben. Das landwirtschaftliche Gefährt fuhr mit 30 bis 35 km/h, erlaubt sind 80 km/h.Als die beiden PW zum – grundsätzlich erlaubten – Überholen ansetzten, zog Kasserra mit. Dabei sah er den Lastwagen zu spät, der ihm in der langen Rechtskurve entgegenkam. Während die vor ihm fahrenden Autos rechtzeitig einschwenken konnten, kollidierte er seitlich mit dem Lastwagen. Dass es nicht zu einer Frontalkollision kam, hat er dem LKW-Chauffeur zu verdanken. Dieser war voll auf die Bremse getreten und nach rechts ausgewichen – in den Strassengraben. Dabei erlitt er ein Schleudertrauma, Kasserra blieb unverletzt. «Dafür ist man doch versichert» Weil er an einer unübersichtlichen Stelle überholt und den Gegenverkehr behindert hatte, wurde der 33-Jährige verurteilt. Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland bestrafte ihn wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln mit einer bedingten Geldstrafe von 3300 Franken und einer Busse von 800 Franken. Zudem musste er die Verfahrenskosten von 900 Franken übernehmen. Der Führerausweis wurde ihm für drei Monate entzogen. Kasserra akzeptierte das Verdikt. Damit war die Sache für ihn aber längst nicht erledigt. Anfang März erhielt er Post von der Allianz Suisse, bei der das Auto versichert ist: «Gemäss Gesetz steht uns bei grob fahrlässiger Herbeiführung eines Schadenfalls der Rückgriff auf Sie als Schadenverursacher zu. Unter Berücksichtigung aller Umstände und in Anlehnung an die Gerichtspraxis ist eine Rückgriffsquote von 25 Prozent angemessen.» In Zahlen hiess das: Die Versicherung forderte von ihm knapp 32 000 Franken. Sie hatte für Schäden an den beiden Fahrzeugen insgesamt rund 127 000 Franken ausgegeben.«Ich war völlig geschockt», sagt Kasserra. «Natürlich habe ich einen Fehler gemacht, aber ich war immer der Meinung, dass Versicherungen nur Regress nehmen, wenn jemand viel zu schnell gefahren ist, ein Rotlicht oder eine Sicherheitslinie missachtet hat oder Alkohol oder Drogen im Spiel waren. Das alles war bei mir nicht der Fall.» Und seine Partnerin Fabienne Unger ergänzt: «Jörg ist doch kein Raser, sondern ein ganz gewöhnlicher Autofahrer mit einwandfreiem Leumund, der nur einen kleinen Nissan Micra fährt! Genau für solche Fehler, die jedem passieren können, hat man doch eine Versicherung.» Grob fahrlässig oder nicht? Tatsächlich lautet die Gretchenfrage: Hat Jörg Kasserra den Verkehrsunfall grobfahrlässig verursacht? Hat er also, wie das Bundesgericht definiert, «elementare Vorsichtspflichten verletzt, deren Beachtung sich jedem verständigen Menschen in der gleichen Lage aufdrängt»? Wenn ja, darf die Allianz Suisse als Haftpflicht- und Vollkaskoversicherer laut Gesetz einen Teil ihrer Zahlungen für die Reparatur der beiden Fahrzeuge von ihm zurückverlangen (siehe Box unten rechts). Der TA hat die Frage den Rechtsprofessoren Walter Fellmann (Uni Luzern), Stephan Fuhrer (Uni Basel) und Hardy Landolt (Uni St. Gallen) sowie dem Luzerner Haftpflichtanwalt Christian Haag gestellt. Resultat: Alle sind der Ansicht, es liege ein grob fahrlässiges Verschulden vor.Damit stellt sich die weitere Frage, ob die von der Versicherung geforderten 25 Prozent der Schadensumme angemessen sind. «Die Quote ist streng, aber durchaus vertretbar», sagt Stephan Fuhrer. «Vertretbar», ist auch das Urteil von Hardy Landolt, «angemessen», meint Walter Fellmann. Einzig Christian Haag sagt, die 25 Prozent seien «eher hochgegriffen». Und: «Auf 15, maximal 20 Prozent sollte man die Quote meines Erachtens schon herunterverhandeln können.» Ombudsmann wenig hilfreich Doch Verhandlungen mit der Versicherung erwiesen sich für das Duo Unger/Kasserra als schwierig, weil die Allianz nur mündlich verhandeln und keine Gerichtsurteile zu vergleichbaren Fällen vorlegen wollte. Erst der Ombudsmann der Privatversicherung konnte ihr eine ausführliche Stellungnahme entlocken. Darin räumte die Versicherung ein, dass es «leider nur wenige Urteile zu ähnlichen Unfallkonstellationen gibt» und «die Höhe des Rückgriffs ein Ermessensentscheid ist». Mit Jörg Kasserra ging die Allianz hart ins Gericht: «Bei unserer Verschuldensbeurteilung fällt insbesondere ins Gewicht, dass der Unfallverursacher in rücksichtsloser Weise und nur bedacht auf seinen Zeitgewinn das Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn gelenkt hat, ohne im Geringsten zu wissen, ob aus der Gegenrichtung ein anderes Fahrzeug nahte. Nicht unberücksichtigt bleiben darf zudem der immense Schaden, der durch das egoistische Verhalten von Herrn Kasserra verursacht worden ist.» An der Rückgriffsquote von 25 Prozent hielt die Versicherung fest. Der Ombudsmann machte sich ihre Haltung zu eigen. Hartnäckigkeit zahlte sich aus «Wir waren damals ziemlich verzweifelt», sagt Fabienne Unger. «Unsere bescheidenen Ersparnisse waren aufgebraucht, nachdem wir einen Monat vor dem Unfall zusammengezogen und Möbel gekauft hatten. Daher hatten wir Angst, dass unsere Pläne, für ein eigenes Haus zu sparen und irgendwann eine Familie zu gründen, auf Jahre hinaus zerstört würden.» Aus der Not heraus machte das Paar der Versicherung den Vorschlag, 13 000 Franken in Monatsraten à 1000 Franken abzuzahlen. Und siehe da: Die Allianz bot anlässlich eines persönlichen Gesprächs Hand zu einem Kompromiss. Man einigte sich auf die Zahlung von 22 500 Franken, zahlbar in monatlichen Raten. «Für uns als Normalverdiener ist das zwar immer noch sehr viel Geld», sagt Fabienne Unger, «aber zusammen schaffen wir das innerhalb von zwei Jahren – und das ist wenigstens ein absehbarer Zeitraum.» Fabienne Unger und Jörg Kasserra müssen die nächsten zwei Jahre Schulden bei der Versicherung abstottern. Foto: Sophie Stieger
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