«Jetzt ist Schulz»
Der mutmassliche Wahlverlierer Martin Schulz trat am Samstag in Freiburg wie ein Sieger auf.

Es war alles so schön angerichtet am vergangenen Samstag auf dem neu gestalteten Platz der Alten Synagoge in Freiburg. Es gab Infostände, Wasser und Apfelschorle für 1,50 Euro und SPD-Luftballons umsonst. Es gab Jusos mit SPD-Fahnen und roten Pullovern, die sich auf Martin Schulz freuten, der um 14 Uhr reden und für 45 Minuten vergessen machen sollte, dass laut den jüngsten Umfragewerten die SPD im Schlechtwetterbereich zwischen 20 und 23 Prozent liegt. Wer den Kampf nicht mehr gewinnen kann, hofft auf ein Wunder. Am SPD-Stand sagt einer: «Umfragewerte sind nicht Wahlresultate.»
Wunder sind selten, und die SPD hatte ihres bereits schon, am 19. März, man nannte es später «Schulzomanie». Was war die SPD euphorisch; Machtwechsel jetzt, ein besseres Deutschland, mindestens für immer. Schulz war bei den Umfragewerten auf Augenhöhe mit Merkel. Drei Monate lang. Es kam eine desaströse Landtagswahl in NRW, und Schulz musste einen Wahlkampf führen, der auf seinen Vorgänger als Parteipräsident und Kanzlerkandidat, Sigmar Gabriel, zugeschnitten war.
Das Einzige, was Schulz noch gewinnen kann und schon gewonnen hat, ist die Würde in der Niederlage; er ist ein grossartiger Verlierer. Einer, der gelegentlich sogar vergessen macht, dass es nichts mehr zu gewinnen gibt. Aber vielleicht ist es auch so, dass die SPD einfach ebenso grossartig im Verdrängen ist wie im Versprechen besserer Welten.
Die Welt auf dem Platz der Alten Synagoge gedeiht gerade an diesem Samstag. Da ist die verbindende Harmonie der Ideologie, da sind die Ähnlichkeiten in der Weltanschauung, die sich auch in der Kleidung manifestiert, da ist diese ewige sozialistische Atmosphäre, die sich aus der Absicht der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität speist, und der Platz scheint wie ein kleiner, selbstgenügsamer Kosmos, der gerade seine eigene Schwerkraft feiert und die Galaxie darum herum vergisst. Natürlich scheint dazu die Sonne maximal.
«Dort», sagt ein Juso, «wo die SPD ist, scheint immer die Sonne.» Er kommt aus Tuttlingen, 130 Kilometer östlich von Freiburg, CDU-Land. Gekommen ist er mit einem Auto aus dem Juso-Fuhrpark, auf dem steht: «100 Prozent Gerechtigkeit? Better call Schulz.» Auf die Frage, was für ihn das grosse politische Thema sei, sagt er: «Verkehrswende.» Man weist ihn darauf hin, dass das Fahrzeug, mit er hierherfuhr, ein Mercedes Vito 116 CDI ist, ein Diesel, was ja für jene des ganz linken Spektrums der SPD Massenmörder-Potenzial hat: «Ja, fällt mir jetzt auch grad auf, das mit dem Diesel. Aber das ist halt das einzige Fahrzeug im Fuhrpark gewesen. Und irgendwie muss ich dann ja auch schauen, wo ich bleibe, wenn ich vorwärtskommen will.»
Auf Augenhöhe
Martin Schulz ist noch unterwegs. In einem schwarzen BMW mit Blaulicht auf dem Dach. Auf der Bühne heizt das deutsch-französische Hip-Hop-Duo Zweierpasch ein bisschen ein: Gerechtigkeit muss her, das AKW Fessenheim weg. Gerechtigkeit, das ist das grosse Ding hier. «Zeit für Gerechtigkeit» steht als grosses Transparent auch auf der Bühne. Nicht so gerecht findet ein Genosse vor der Bühne, dass viele Plätze ganz nah bei der Bühne für die Nomenklatura der anwesenden SPD-Lokalprominenz reserviert sind. Und dass das abgesperrt ist, findet er auch nicht gut. «Bei der CDU würde mich das nicht wundern. Aber bei uns?»
Die Plätze sind jetzt frei, weil jene lokalen SPDler, die in der Partei etwas geworden sind, auf der Bühne stehen. Es ist die Zeit des Vorprogramms. Sie erzählen davon, dass ein Fünfjähriger zu ihnen gekommen sei und gefragt habe, ob er sie wählen dürfe. Dass «Haustürwahlkampf» ganz toll sei, und der SPD-Kandidat für den Schwarzwald, Jens Löw, ist begeistert, dass man die SPD nun endlich auch im Schwarzwald kennt. Das erste Mal übrigens, seit es den Schwarzwald gibt. Die Themen auf jenem Herd, auf dem sie später richtig gekocht werden sollen, sind die inzwischen hinlänglich bekannten, es ist ein Mantra aus: Rente, Bildung, Bürgerversicherung, Pflegenotstand, dem Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, Lohngleichheit. Und im Backofen schmort die ganze Zeit über die Gerechtigkeit.
Noch eine halbe Stunde bis Schulz. Mittlerweile haben die Menschen ihre Jacken abgezogen, die Sonne scheint, als ob der Sommer nochmals von vorne beginnen würde. Auf der Bühne jetzt die baden-württembergischen Spitzenkandidaten und Landesvorsitzenden. Sie heissen Bender, Fechner, Breymayer, Schwarzelühr-Sutter. Sie geben eine kleine Vertiefung der SPD-Wahlkampfthemen (siehe oben), gespickt mit Anekdötchen. Die eine (Breymayer) war beim Zahnarzt, «den 7er oben rechts», der ist jetzt ebenso weg wie die einstigen Umfragewerte der SPD von 32 Prozent, und sie musste sich Gedanken machen, ob sie ein Implantat wolle oder keines, das koste ja auch Geld, und sie kam zum Schluss, dass sie sich im Grunde überhaupt keine Gedanken machen müssen wolle und dass sie finde, niemand müsse sich über so was Gedanken machen sollen, deshalb brauche es eine Bürgerversicherung. Ein anderer (Lokalmatador Bender) war mit einem Wahlkampfauto oben auf 1284 Meter über Meer auf dem Berggipfelchen «Schauinsland», weil man müsse, gerade als SPD, neue und ungewöhnliche Wege gehen.
Schulz kommt jetzt, der kleine Sonnenkönig der kleinen Leute. Und die Hoffnung, dass er sie grösser macht. Wie ein Boxer auf dem Weg zum Ring läuft er durch die Menge, Abklatschen hier, Selfie dort. Vermutet man zumindest, sehen kann man ihn nicht. Auf der Bühne blinken Scheinwerfer rotes Licht in die Menge; das Zentralgestirn durchpflügt seine Galaxie. Er betritt die Bühne nicht, sondern ein kleines, leicht erhöhtes Podium davor. Das bringt ihn fast runter auf die Höhe des Volkes und mit Sicherheit auf Augenhöhe mit dem kleinen Mann.
Auf Stimmenfang
Er selbst, geboren 1955, ist ein Mann, der einst eine kaufmännische Ausbildung zum Buchhändler machte und die ersten Jahre seines jugendlichen Mannseins als Vollblut-Alkoholiker verbrachte. Er war es auch noch, als er 1975 Jungsozialist wurde. 1980 legte er sich erfolgreich trocken, berauschte sich an ersten Erfolgen als Lokalpolitiker und wurde mit 31 Jahren jüngster Bürgermeister Nordrhein-Westfalens. Dann das Europaparlament, wo er sich hochdiente bis zu dessen Präsidenten. Zurück in Deutschland und auf Jobsuche, hievte ihn der gewiefte Sigmar Gabriel hoch zum Parteipräsidenten und Kanzlerkandidaten, weil Gabriel lieber als Aussenminister obenauf schwamm denn als Kanzlerkandidat unterging. Es folgte das kurze und kleine Wunder des Höhenflugs und dann der unaufhörliche Fall in die diversen Wirklichkeiten der Realität.
«Ich bin hier», fängt er an, «um für Zustimmung zu werben. Damit wir die stärkste Fraktion werden. Und ich Bundeskanzler sein kann.» Hinter ihm auf der Bühne eine Frau, die das alles auf Gebärdensprache übersetzt. Vor ihm 4000 Menschen, die langsam das Klatschen entdecken.
Er legt gleich los, so wie das alle Männer tun, die nichts mehr zu verlieren haben. Er wolle wirtschaftlichen Fortschritt in soziale Gerechtigkeit umwandeln. Er preist die Ehe für alle als grossen Erfolg für die Sozialdemokratie und die Gerechtigkeit. Sagt, dass Deutschland mehr könne mit ihm. Dass es ihm «auf den Keks» gehe, wenn alle sagten, Deutschland gehe es gut, weil hier schliesslich nicht alle wohlhabend seien. Er verspricht sofort eine Mietpreisbremse, wenn er Kanzler ist, weil bezahlbares Wohnen ein Grundrecht sei. Und kein Privileg. Die SPD wollte das ja schon längst durchsetzen, aber «das wurde natürlich stets von diesem konservativen Block mit Frau Merkel an der Spitze verhindert».
Aus dem Publikum erheben sich die ersten Plakate: «Jetzt ist Schulz», steht drauf. Schulz ist jetzt in Fahrt auf dem Circuit seiner Wahlrede, gibt Gas, bremst, ist aggressiv, dann wieder leise, fast weinerlich, macht da den Landesvater, dort den Revolutionär, hier den Kumpel, da den Staatsmann. Seine Boxenstopps: Gerechtigkeit für alle beim Rückkehrrecht, bei der Bürgerversicherung, der Rente, den Löhnen, den Bildungschancen. «Unverhandelbar» sei das, sagt er, und es klingt ein wenig, als ob einer vor der Kapitulation schon etwas für danach herausschlagen möchte.
Schulz spricht mit der Eindringlichkeit eines Mannes, der alles schon hundert Mal gesagt hat, aber trotzdem nicht müde wird, es zu wiederholen und daran zu glauben. Man denkt, der könnte mal ein guter Bundespräsident werden, irgendwann, denn jetzt ist für ihn kein Platz an der Sonne frei. Auch im wortwörtlichen Sinn: Als Schulz noch nicht da war, schien die Sonne, als er kam, zogen Wolken auf, als er ging, fing der Regen an. Das ist irgendwie ungerecht. Irgendwas mit dem Timing kann er nicht.
Das Thema ist jetzt die Rente mit 70, das kann er. Er sagt: «Obwohl Frau Merkel bei diesem sogenannten Duell, das ja eher eine Begegnung in Anwesenheit von Journalisten war, ja das Gegenteil behauptet hat. Aber das sagte sie bei der Maut ja auch schon. Und zu was führt das, liebe Genossinnen und Genossen? Es führt dazu, dass eine 70-Jährige dann einen 80-Jährigen pflegt.»
Aufgeregt
Er redet sich jetzt in eine unterhaltsame Rage. Redet von unfassbaren Ungerechtigkeiten bei den Löhnen und von tricksenden Managern: «Das sind doch die wahren Totengräber der deutschen Wirtschaft. Nicht wir.» Fragt, was die eigentlich mache, die Wirtschaft, wenn man sich vergegenwärtige, das Mexiko und Chile die bessere Internetabdeckung hätten. «Und jetzt redet die Merkel davon, dass bei diesem sogenannten Duell die Zukunftsthemen nicht vorgekommen seien. Ich teile dieses Schicksal, Frau Merkel.»
Natürlich verweist er sogleich auf den Brief an Frau Merkel mit dem Vorschlag, sich nochmals zu duellieren, dem Merkel eine Absage erteilt hat. «So ist das. Und das ist der Unterschied: Die einen verwalten Vergangenheit. Die andern wollen Zukunft gestalten. Und, Frau Merkel, ich stehe jederzeit für ein zweites Duell zur Verfügung. Zu Luft, zu Land, zu Wasser, zu jeder Uhrzeit.»
Das klingt gut, erinnert aber an einen Sportler, der erst nach dem wichtigsten Wettkampf des Jahres seine Höchstform erreicht. Er sagt jetzt Dinge, die jedes Mal die «Jetzt ist Schulz»-Schilder in Richtung Himmel bringen: «Herkunft darf nicht Schicksal sein.» «Berufsschulen sind die Zukunftsstätten des Landes.» «Die AfD ist keine Alternative für Deutschland. Sondern eine Schande für Deutschland.» «Wenn einer wie Tauber von der CSU sagt, dass wenn einer in Deutschland was Richtiges gelernt habe, dann bräuchte er keine drei Minijobs, dann sage ich, welche Arroganz ist das gegenüber denjenigen, die darauf angewiesen sind.» Das gab ganz viele Schilder.
Und sie blieben oben, weil er weiterfuhr mit: «Ich möchte über Respekt reden. Man sagt ja in Bezug auf meine Person, dass noch nie einer mit Bart Bundeskanzler geworden sei und dass meine Haare nicht zum Bart passen, dass ich Anzüge von der Stange trage, was stimmt, kein Abitur habe, was auch stimmt, dass ich den Charme eines Eisenbahn-Schaffners hätte, die Ausstrahlung eines Sparkassenangestellten und so weiter. Ich sage euch, mir geht das … es ist mir gleichgültig. Und ich frage: Was ist schlecht an einem Eisenbahnschaffner? Hat der keinen Respekt verdient?»
Schulz sagt das nicht zum ersten Mal. Er sagt das bei jedem seiner Auftritte. Aber er hat einen guten Tag erwischt, und es klingt zumindest so, als ob er es zum ersten Mal sagen würde. Zuletzt sagt er in Freiburg im Breisgau: «Ihr habt die Wahl. Zwischen einer Kanzlerin, die nichts sagt. Und einem, der sagt, was er will.»
Es ist jetzt 14.45 Uhr. 45 Minuten hat er gesprochen. Er steht noch für Selfies zur Verfügung, kurz der Presse, und dann steigt er in die Limousine in Richtung Karlsruhe. Um fünf hält er dort die nächste Rede, da hat er keine Wahl, und sie wird, wenn sie ihm gelingt, sein wie alter Wein in einem neuen Schlauch.
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