Jeremy Corbyn formt Labour nach seinem Bild
Im Kampf um die Macht in Grossbritanniens grösster Oppositionspartei hat der linke Flügel einen weiteren Sieg errungen. Für moderate Abgeordnete stellt sich nun die Frage: Bleiben oder gehen?

Die fortdauernde Brexit-Debatte und der Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron beschäftigten Grossbritannien diese Woche. Relativ wenig Beachtung fand ein Ereignis, das in seiner Bedeutung für die Labour-Partei wie für die britische Linke insgesamt kaum hoch genug eingeschätzt werden kann: Drei Vakanzen im Nationalen Exekutivkomitee (NEC) der Partei wurden neu besetzt; alle drei Mandate gingen an Mitglieder von Momentum, der Organisation, die den prononciert linken Parteichef Jeremy Corbyn stützt.
Beschlossen worden war die Erweiterung des NEC um vier Sitze vergangenen September auf dem Parteitag in Brighton. Beobachter werteten die Entscheidung seinerzeit als Versuch, Corbyn eine Mehrheit in dem Gremium zu verschaffen. Eines der neuen Mandate dürfen die Gewerkschaften besetzen; über die übrigen drei, die nun vergeben wurden, entschieden die Mitglieder der Partei.
Für den gemässigten Labour-Flügel, der Ende der Neunzigerjahre mit Tony Blairs Wahlsieg auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, könnte die Neuausrichtung des NEC die finale Niederlage sein: Unter den Mitgliedern der Partei hat Corbyn bereits eine satte Mehrheit. Die letzte Bastion der Gemässigten ist nun die Parlamentsfraktion, doch mit ihrer Mehrheit im NEC können die Momentum-Leute die Partei-Statuten ändern und somit alle Abgeordneten zwingen, sich einer Wiederwahl durch ihre lokalen Sektionen zu stellen, wo in den meisten Fällen wiederum Jeremy Corbyns Fans die Mehrheit haben.
Kein Ausweg, nirgends?
Für moderate Labour-Abgeordnete stellt sich damit die Frage, ob sie sich anpassen oder die Fraktion verlassen sollen. Sie sind nun auf Corbyns Gnade angewiesen. Vielleicht, so spekulieren Kommentatoren, werde der Parteichef zumindest die populäreren unter seinen Kritikern um des parteiinternen Friedens willen leben lassen.
Die Alternativen, vor denen Corbyns Gegner stehen, erscheinen allesamt nicht sonderlich attraktiv: Sollen sie eine neue Mitte-links-Partei gründen? Angesichts des britischen Mehrheitswahlrechts erscheint dies kaum erfolgversprechend. Oder sollen sie zu den Liberaldemokraten übertreten? Einen solchen Schritt würde die Öffentlichkeit als unschicklich empfinden, sofern er nicht mit dem Rücktritt des jeweiligen Parlamentariers und damit einer Nachwahl verbunden wäre. In Nachwahlen allerdings würde Labour dann wohl Gegenkandidaten aufstellen – womit die Kandidaten der regierenden Konservativen Partei unter Umständen die lachenden Dritten wären.
Der endgültige Triumph Momentums, einer Gruppierung, die noch nicht einmal drei Jahre alt ist, scheint damit vollzogen. Einige sprechen von einer feindlichen Übernahme der Partei, doch Corbyn und seine Leute können mit Recht argumentieren, alles sei demokratisch abgelaufen. «Momentum hat Tausende überzeugt und inspiriert, der Labour-Partei beizutreten. Sie haben den Sieg verdient», kommentiert der konservative Spectator. Jeremy Corbyn habe Labour nach seinem Bild geformt, wie dies vor ihm allenfalls Tony Blair getan habe.
Angst vor «Big Business»
Der mächtigste Verbündete des Labour-Chefs war und ist dabei der Zeitgeist. Die Times veröffentlichte gestern eine Umfrage, wonach je 24 Prozent der 18- bis 24-Jährigen im Land «Big Business» beziehungsweise «rechte Kolumnisten, Politiker und Financiers» für die grösste Gefahr halten, während sich gerade einmal 14 Prozent an hohen Steuern und zehn Prozent an «linken Gewerkschaftern, Politikern und Aktivisten» stören. Dass Jungwähler bei den Parlamentswahlen vom vergangenen Juni mit grosser Mehrheit für Corbyns Labour stimmten, kann vor diesem Hintergrund niemanden verwundern.
Die Tatsache, dass nur neun Prozent der Befragten Kommunisten zur grössten Gefahr erklärten, versuchte die Times zu skandalisieren, was insofern wenig überzeugend wirkte, als deren Machtübernahme in Grossbritannien in absehbarer Zukunft kaum bevorstehen dürfte.
Ganz unbedenklich ist der Wert allerdings auch nicht, spiegelt er doch die Geschichtsvergessenheit vieler junger Leute wider. Linke Ansichten, die nicht selten über die Grenze zum Extremismus hinausgehen, sind an britischen Universitäten vielerorts in Mode. Es sei unfair, den Kommunismus für gescheitert zu erklären, sagte etwa Fiona Lali, eine Studentenpolitikerin und Verbündete Corbyns, kürzlich im BBC-Radio, denn dieser habe ja nie die Chance gehabt, sich zu entwickeln. Die Sowjetunion habe nicht florieren können, weil Amerika, Grossbritannien und andere westliche Mächte sie daran gehindert hätten.
«Ein alter Mythos»
Diese linke Variante der Dolchstosslegende mochte Orlando Figes, Professor für russische Geschichte in London, so nicht stehen lassen: Dass der Kommunismus vor allem an westlichen Gegnern gescheitert sei, sei «ein alter Mythos». Zugleich warnte Figes vor Geschichtsrelativismus: Selbst der Regentschaft Josef Stalins versuchten manche an britischen Universitäten heute positive Aspekte abzugewinnen.
Warum der Kapitalismus vergleichsweise schlecht wegkommt, ist leicht erklärbar: Seine tatsächlichen oder vermeintlichen Schwächen kennen die Studenten aus eigener Anschauung, Stalins Terror naturgemäss nicht. Dass sich zahlreiche angehende Akademiker, zumal die politisch engagierten unter ihnen, offenbar nur wenig mit historischen Fragestellungen beschäftigen, lässt sich dadurch allerdings nicht entschuldigen.
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