Ja zu Cultural Appropriation!
Die Motivation, in allem stets das Negative zu sehen, ist nicht nur nicht förderlich für zwischenmenschliche Beziehungen, sie ist belastend für Integration und Diversität.
Bislang habe ich stets geglaubt, in der Schweiz wenigstens blieben wir verschont von gewissen zeitgenössischen gesellschaftlichen Ansprüchen. Nur kriechen die meisten Trends, die ihren Ursprung in den USA haben, früher oder später rund um den Erdball. Und so ist es kaum verwunderlich, dass uns vor einigen Tagen die öffentliche Aufforderung «Weisse, hört auf, Dreadlocks zu tragen» erreichte. Das sei kulturelle Aneignung. Die Kulturpolizei ist im Alpenland angekommen – und wittert Cultural Appropriation an jeder Ecke.
Der Begriff steht für weisse Menschen, die Symbole, Kleidungsstücke oder Handlungen übernehmen von anderen ethnischen Gruppen und so angeblich deren kulturelle Identität stehlen und herabwürdigen. Die Dreadlocks-Forderung hat Yvonne Apiyo Brändle-Amolo, Präsidentin der SP-Migranten Zürich, in der Gratiszeitung 20 Minuten geäussert.
Dreadlocks bekommt man, wenn man seine Haare für längere Zeit nicht wascht oder kämmt. Würde ich für einen Monat lang auf Haarpflege verzichten, bekäme ich Dreadlocks, verfilzte, tote Haarmaterie. Dreadlocks hat keine Kultur für sich erfunden. Gemäss der Website dreadfactory.de geht man davon aus, dass schon Ur-Völker Dreads trugen, ganz einfach, weil sie über keine Kämme verfügten – oder das Waschen der Haare nicht zu ihren Prioritäten zählte.
Weisse sollten nicht Gerichte wie Banh mi oder Dosas kochen.
Dreads waren schon bei den alten Ägyptern anzutreffen, angeblich soll der ägyptische Pharao Tutanchamun sie getragen haben. Auch die Germanen, Wikinger, Griechen und Naga trugen sie. Dreads haben später auch Julius Cäsar beschäftigt, der angeblich über die Kelten sagte, sie hätten «Haare wie Schlangen».
Dass nun ausgerechnet Dreadlocks ein Zeichen von kultureller Insensibilität von Weissen gegenüber Minderheiten darstellen sollen, ist ein Vorwurf der eher absurden Sorte. Brändle-Amolo sagt laut 20 Minuten, dass Weisse Dreadlocks oder Cornrows, eine aus Afrika stammende Flechtfrisur, völlig naiv tragen würden, ohne zu wissen, was überhaupt dahinterstecke: «Die Cornrows stellten Landkarten dar und dienten Sklaven als Fluchtweg aus den Plantagen.» Die 41-jährige Kenianerin findet es auch problematisch, wenn «Weisse Blues und Jazz spielen und unsere Musik monetarisieren». Auch sei es eine Frechheit, wenn weisse Designer mit afrikanisch-inspirierter Kleidung Profit machen.
Die Bereiche, wo Aktivisten, die sich gegen Cultural Appropriation engagieren, heute getriggert sind, scheinen zahlreich: Musik, Mode, Tanz, Essen, Haar, Schmuck, Sport etc. Chanel gilt als Kulturdieb, weil das Unternehmen den Bumerang als Sportaccessoire verkaufte, wo es doch ursprünglich die Waffe australischer Aborigines war.
Eine Schönheitskönigin, weil sie bei der Miss America-Wahl als Nicht-Inderin einen Bollywood-Tanz aufführte. Laut der New York Times erstellten Aktivisten in Portland, Oregon, neulich sogar eine Liste von «white-owned appropriative restaurants»(«Restaurants weisser Besitzer, die sich fremde Kulturen aneignen»), in der Hoffnung, dass Leute diese Orte boykottieren. Die Begründung: Weisse sollten nicht Gerichte wie Banh mi oder Dosas kochen.
Wenn ich Lust auf Dreadlocks oder Rappen habe, dann werde ich eben Rappen und dazu Dreadlocks tragen.
Ich selbst eigne mir immer mal wieder eine fremde Kultur an, nämlich dann, wenn ich meine Lieblings-Ohrringe, die Kreolen, trage. In einem Vice-Artikel mit dem Titel "Kreolen sind meine Kultur, nicht dein Trend" beklagte eine Autorin neulich, dass, wenn Weisse Kreolen anziehen, sie damit die Identität jener Leute stehlen würden, die einst hart gegen koloniale Strukturen gekämpft hätten: «Kreolen werden von Minderheiten als Symbole des Widerstands, der Stärke und Identität getragen. Überlege es dir zweimal, bevor du sie trägst.»
Mit Verlaub, aber nein, ich überlege mir nicht zweimal, bevor ich meine Kreolen trage. Auch die Kreolen hat keine Kultur für sich erfunden. Ihr Herkunftsort ist nicht bestimmt, aber es gibt Funde von ringförmigen Ohranhängern aus Helmsdorfer Fürstengräbern, die bis in die Bronzezeit zurückreichen.
Auch überlege ich mir nicht zweimal, bevor ich Gewänder überziehe oder Musik höre, die nicht aus meiner eigenen Kultur stammen. Und wenn ich Lust auf Dreadlocks oder Rappen habe, dann werde ich eben Rappen und dazu Dreadlocks tragen. Vielleicht nehme ich dann sogar ein Musikvideo auf.
Um ernst zu bleiben: Aus der Perspektive von Minderheiten wie Ureinwohnern ist die Entrüstung teilweise nachvollziehbar, wenn Grossunternehmen ihre traditionellen Symbole oder Kleidungsstücke zweckentfremden, unter grossem Profit veräussern, und Käufer ihren Hintergrund kaum mehr kennen. Nur richten sich die unzähligen Forderungen heute in erster Linie an Privatpersonen, mit ihren Dreadlocks, Kreolen und Tacos.
Tragt ein Bindi, ich sehe es als kulturelle Wertschätzung und nicht als Aneignung.
Und hier gibt es zwei Sichtweisen: Man kann es als Aneignung oder Diebstahl sehen, oder als Hommage an die Kultur, als ein Teilen oder sich-inspirieren-lassen. Indem man etwa wunderschöne, afrikanisch- oder indisch-inspirierte Kleidung trägt, zollt man den Kulturen doch gerade das Ansehen, das sie dafür verdienen. Was zählt, ist doch die Absicht. Es möchte wohl kaum jemand mit dem Bindi den Hinduismus herabwürdigen oder mit den Kreolen oder Dreadlocks die kulturelle Identität von Afrikanern stehlen.
Spinnt man die These der Aktivisten weiter, dürfte ja auch niemand ausser den Griechen einen demokratischen Staat ausrufen. Oder mathematische Formeln der Babylonier verwenden. Weit genug zurück verschmilzt alles miteinander, das macht unsere kulturelle Vielfalt doch gerade aus.
Und, nebenbei, alle «borgen» von den anderen. Die New York Times führt dazu die weltweit gefeierte schwarze Opernsängerin Jessye Norman an, die berühmt ist für ihr Wagner-Repertoire. Oder Hamdi Ulukaya, ein türkischer Immigrant, der als Gründer des beliebten "Greek Jogurt" in Amerika zum Erfolg kam. Und schliesslich kennen wir alle Damen wie Beyoncé, die ihr gekräuseltes Haar strecken lassen, damit es eben dem von Weissen ähnelt.
«Tragt ein Bindi, ich sehe es als kulturelle Wertschätzung und nicht als Aneignung», schreibt Neetu Chandak, eine Amerikanerin mit indischen Wurzeln im US-Studentenmagazin The College fix. Sie sehe es als Ehre und habe in ihrem Leben stets Leute ermutigt, indisch-inspirierte Accessoires, Bindis oder Halloween-Kostüme zu tragen, auch Indisches Essen zu probieren.
«Das half, ein Bewusstsein zu schaffen für meine Kultur und erzeugte ein Gefühl der Einheit.» Sie erlebe ständig, dass jene Leute, die sich aktiv gegen kulturelle Aneignung engagieren, gar nicht Teil der Kultur sind, von der sie behaupten, sie würde angeeignet. «Es ist doch ironisch anzunehmen, sie würden mit ihrem «Kreuzzug» die Rechte von Minoritäten und Immigranten verfechten, während sie in Wahrheit Menschen mit ihren Meinungsvorschriften tyrannisieren.»
Manchmal scheint es, als ob Menschen krampfhaft nach Zeichen von Rassismus suchen.
Auch Céleste Ugochukwu, Präsident des Afrikanischen Diasporarates der Schweiz, macht es laut 20 Minuten stolz, wenn Menschen afrikanische Kulturgüter benutzen. «Was gibt es für bessere Marketinginstrumente, um Afrika im Westen zu promoten? So können wir der Welt zeigen, wie reich die afrikanische Kultur ist.» Die afrikanische Wirtschaft könne davon nur profitieren. Hinter der Bewegung gegen Cultural Appropriation vermutet Ugochukwu «möglicherweise Minderwertigkeitskomplexe».
«Es gibt noch Schwarze, die sich den Weissen gegenüber unterlegen fühlen», sagt er, deshalb würden sie es als eine Art Raub an ihrer Kultur sehen. Man sollte Afrika aber nicht immer als armes Opfer instrumentalisieren, sondern alle sollten am Projekt «Rebranding Africa» mitmachen. Nach scharfer Kritik ruderte Brändle-Amolo später zurück, sie «wende sich nicht gegen die Weissen als Rasse». Und ob Weisse afrikanische Frisuren tragen wollen, sei jedem selbst überlassen. Dankeschön.
Manchmal scheint es, als ob Menschen krampfhaft nach Zeichen von Rassismus, von Unfairness und Diskriminierung suchen. Diese Motivation aber, in allem stets das Negative zu sehen, ist nicht nur nicht förderlich für zwischenmenschliche Beziehungen, sie ist belastend für Integration und Diversität. Um es mit den Worten von Neetu Chandak zu sagen: Hey, seht es nicht als cultural appropriation, sondern als cultural appreciation!
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