Wochenduell zur Schach-WMIst Schach ein Sport?
Während Ian Nepomniachtchi und Ding Liren um den WM-Titel kämpfen, wird diese Frage selbst von den Sportverbänden unterschiedlich beantwortet. Lesen Sie und stimmen Sie ab.

JA: Dass eine Tätigkeit nicht körperlich ist, heisst noch lange nicht, dass sie nicht körperlich anstrengend ist
Der Rand ist das, was eine Sache von einer anderen abgrenzt, was ihr die Form gibt, sie definiert. Schach ist daher eine Randsportart im doppelten Sinne. Es ist eine Randsportart aufgrund seines geringen öffentlichen Interesses. Schach ist aber auch eine Randsportart, da es uns erkennen lässt, was Sport überhaupt ist. Es fordert von uns eine Definition von Sport.
Dabei fällt auf, dass sich der Sport nicht auf ein einziges Merkmal reduzieren lässt. Sein Wesen – und somit auch seine Faszination für uns – gründet auf seiner Vielschichtigkeit: Sport hat den Charakter eines Spiels und eines Wettkampfs zugleich. Er wird durch klare Regeln definiert und ist trotzdem seinem Wesen nach zweckfrei. Er hängt nicht von Glücksfaktoren ab, sondern unterliegt dem Leistungsprinzip.
All dies trifft auch auf das Schach zu. Dem Schachsport den Status von Sport abzusprechen, würde daher bedeuten, die bemerkenswerte Vielschichtigkeit des Sports nur auf das Merkmal der körperlichen Betätigung zu reduzieren, und ginge somit mit einer unhaltbaren Verknappung des Sportbegriffs einher.
Kommt hinzu, dass auch andere Sportarten diesen Cut nicht überstehen würden. Beim Schiessen etwa ist es ja gerade Ziel des Sports, sich so wenig wie möglich zu bewegen.
Vor allem aber: Dass eine Tätigkeit nicht körperlich ist, heisst noch lange nicht, dass sie nicht körperlich anstrengend ist.
Bekannt ist: Die besten Schachspielerinnen und -spieler der Welt treiben täglich Ausdauersport, um den körperlichen Anforderungen einer bis zu siebenstündigen Schachpartie standzuhalten.
Bekannt ist auch: Der Energieverbrauch der Profis beim Schachspielen ist enorm. Ihre Atemfrequenz erhöht sich auf bis zu 40 Züge pro Minute, ihre Herzfrequenz steigt an, genauso wie deren Variabilität, das heisst, das Herz schlägt mal schneller, mal langsamer. Dies alles sind klare Indizien dafür, dass sich die Athletinnen und Athleten während einer Schachpartie unter grossem Stress befinden.
Dieser Stresszustand ist für den Körper höchst anstrengend. Er gerät in einen Alarmzustand, stellt ständig zusätzliche Energie bereit, zum Beispiel, um vor einer Gefahr fliehen zu können, die Muskeln arbeiten schneller als gewohnt.
Mehrere Stunden am Tag befinden sich Ian Nepomniachtchi und Ding Liren zurzeit in dieser Ausnahmesituation und vollbringen im Kampf um die Weltmeisterschaft gleichzeitig kognitive Höchstleistungen – und dies alles an bis zu 14 Tagen. Dass sie dies alles auf einem Stuhl sitzend bewerkstelligen, verkommt vor diesem Hintergrund zu einer absoluten Randnotiz. Darius Meyer
NEIN: Stress, erhöhter Puls, grosser Kalorienverbrauch: Das erfährt auch, wer an den Schweizer Schieber-Meisterschaften im Jassen teilnimmt.
Schach ist anstrengend. Kann schweisstreibend sein. Jeder weiss das, der sich schon einmal an ein Brett gesetzt und sich mit seinem Gegenüber gemessen hat. Es erfordert hohe Konzentration, also grossen mentalen Einsatz. Und dieser Einsatz wirkt sich wiederum auf die körperliche Leistung aus, die erhöht ist.
Damit unterscheidet sich Schach nicht von anderen sportlichen Tätigkeiten. Im Gegenteil: Die Parallelen sind offensichtlich, nicht wegzudiskutieren. Und natürlich sind die Grenzen fliessend: Was ist Snooker? Was Darts? Sport oder Spiel? Man kann darüber streiten, zumal das Wörterbuch den Begriff klar definiert: Sport ist demzufolge eine «nach bestimmten Regeln aus Freude an Bewegung und Spiel, zur körperlichen Ertüchtigung ausgeübte körperliche Betätigung».
Das ist Schach nicht. Sondern ein Brettspiel.
Das wohl forderndste, vielfältigste Brettspiel überhaupt. Aber doch den weniger fordernden, vielfältigen Brettspielen wie Dame, Mühle oder sogar Eile mit Weile viel mehr verwandt als jeder anderen Sportart, Schiessen und Darts inklusive. Und keiner käme bei diesen Spielen auf die Idee, sie als Sport zu bezeichnen.
Vielmehr ist es so: Übermässig Kalorien verbraucht auch, wer an der Schweizer Schieber-Meisterschaft im Jassen teilnimmt. Auch er wird Stress empfinden. Und auch sein Puls wird immer wieder erhöht sein. Und das, obwohl in diesem Spiel das Kartenglück ein Faktor ist. Man kann sogar noch weiter gehen: Wer an seinem Arbeitsplatz schwer kopflastige, anspruchsvolle Arbeit verrichtet, ist so wenig ein Sportler wie der Strassenbauer, der seine Muskeln acht Stunden am Tag einsetzt und in der Sonne schwitzt. Und all das, obwohl physische Messungen in allen Fällen vergleichbare Ergebnisse zeitigen.
Nur weil sie sich nebenbei fit halten, sind die Besten der Schach-Grossmeister noch keine Berufssportler. Das machen die Game-Koryphäen auch, die sich an Konsolen um Preisgelder in Millionenhöhe streiten. Sondern die einen wie die anderen sind professionelle Spieler.
Wir sollten deshalb weniger mit Roger Federer oder Lionel Messi, Michael Jordan oder Usain Bolt vergleichen, wenn wir von Magnus Carlsen, Ian Nepomniachtchi oder Garri Kasparow reden. Sondern lieber andere grosse Namen herbeiziehen, die nicht körperlich, sondern intellektuell Aussergewöhnliches vollbrachten.
Albert Einstein zum Beispiel. Das Superhirn des 20. Jahrhunderts war ziemlich unsportlich. Die Grösse seiner Leistung hat nie darunter gelitten. Schachspieler sind wie er Hirnakrobaten. Aber keine Athleten. Oliver Gut
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