Wochenduell: Grand-Slam ohne RussenIst es richtig, dass in Wimbledon keine Ranglistenpunkte vergeben werden?
Weil russische Spieler beim wichtigsten Rasenturnier der Welt nicht zugelassen sind, werden keine Zähler für die Weltrangliste verteilt. Ein Zeichen der Fairness – oder ein fatales Signal?

Ja: Auf der sportlichen Ebene ist der Gewinn dieses Wettbewerbs ohnehin wichtiger als die Punkte in der Weltrangliste
Wie hoch die Wellen doch schlugen, als verkündet wurde, dass die ATP und die WTA für Wimbledon in diesem Jahr keine Weltranglistenpunkte vergeben. Resultat davon: Spieler, die im letzten Jahr in London weit kamen und so viele Punkte einsackten, werden nun unweigerlich in der Rangliste nach hinten rutschen. Und das unabhängig davon, welche Leistung sie zeigen. So könnte der letztjährige Wimbledon-Sieger Novak Djokovic trotz eines Turniererfolgs in diesem Jahr im Ranking bis auf Rang sieben abrutschen.
Verrückte Tenniswelt also. Und doch war die Entscheidung der ATP und WTA die richtige. Dass der russische Angriffskrieg auf die Ukraine grausam ist und jeglicher Form des friedlichen Zusammenlebens widerspricht, liegt auf der Hand und bedarf keiner Diskussion. Die Spieler aus diesem Land, darunter der letztjährige US-Open-Sieger und die derzeitige Nummer eins des ATP-Rankings, Daniil Medwedew, dürfen davon jedoch nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.
Grundsätzlich herrscht bezüglich der Teilnahme an einem derartigen Anlass eine faire Chancengleichheit. Mit dem Entscheid, bestimmte Nationen aufgrund der politischen Lage dieser Chance zu berauben, wird diese Gleichheit zerstört. Und das verzerrt den Wettbewerb.
Denn sowohl die ATP- als auch die WTA-Tour haben sich auf die Fahne geschrieben, für Toleranz und gegen Diskriminierung einzustehen. Dass sie daher den Beschluss aus London nicht billigen, ist wenig überraschend, stimmt er doch mit diesen Prinzipien nicht überein. Ihnen blieb daher keine andere Wahl, als gegenüber den Wimbledon-Organisatoren diese Strafe auszusprechen. Es ist ein Entscheid, der dieses Mass an Fairness wiederherstellen soll, das zuvor verloren gegangen ist. Er verteidigt die Integrität dieses Leitsatzes.
Auf der sportlichen Ebene ist der Gewinn dieses Wettbewerbs ohnehin wichtiger als die Punkte in der Weltrangliste. Am Ende ihrer Karriere werden Spieler an der Anzahl der Titel gemessen, nicht an der Anzahl der gesammelten Punkte. Daniel Schmidt
Nein: Die ATP und die WTA senden ein fatales Signal nach Russland und in die Welt
Sport ist nicht politisch. Das Lieblingsargument der ATP, der WTA und vieler Spielerinnen und Spieler: Es gilt schon lange nicht mehr – hat noch nie gegolten. Der Sport wird benutzt von Politikern, Investoren, Funktionären, ja von ganzen Staaten. Hinter all den Eingriffen verstecken sich politische Absichten.
Insbesondere in Russland gilt der Sport seit Jahren als Propagandainstrument. Er soll die Grossartigkeit des Landes zeigen und hat einen derart hohen Stellenwert, dass ein systematisches Staatsdoping aufgezogen wurde. Es steht ausser Frage, dass ein Wimbledon-Triumph von Daniil Medwedew – aktuell die Nummer 1 der Weltrangliste – ein Triumph von Wladimir Putin gewesen wäre.
Die entscheidende Frage also ist, ob auch das Tennis feststellt, dass Russland in der Ukraine gerade einen Angriffskrieg führt. Lautet die Antwort auf diese Frage ja, so ist ein Ausschluss russischer Tennisspieler die einzig mögliche Reaktion darauf. In Wimbledon würde nämlich keinesfalls ein Präzedenzfall geschaffen, wie ihn die ATP und die WTA befürchten. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das britische Grand-Slam-Turnier japanische und deutsche Spieler von den Wettkämpfen ausgeschlossen.
80 Jahre später geht es erneut darum, Haltung zu zeigen, der Welt klar zu machen, dass es Konsequenzen hat, wenn man ein Land überfällt – auch im Sport. An der Eishockey-WM waren keine russischen Spieler zugelassen, in der Leichtathletik wurde Russen die Teilnahme an sämtlichen Grossanlässen untersagt, und selbst der Fussball hat es geschafft, die russischen Clubs von internationalen Wettbewerben auszuschliessen.
Es ist höchste Zeit, dass auch die Tenniswelt aufwacht und durchgreift. Herrgott, wie grotesk wären die Bilder eines triumphierenden Medwedew in Wimbledon gewesen, dem prestigeträchtigsten Turnier im Tennissport. In weisser Weste. Putin hätte den Sieg als Zeichen russischer Stärke gefeiert, während er 2000 Kilometer von London entfernt Menschen abschlachten lässt.
Nur ein Ausschluss konnte dieses Szenario verhindern. Dass die ATP und die WTA diese Entscheidung nun mit dem Entzug von Weltranglistenpunkten relativiert haben, sendet ein fatales Signal nach Russland und in die Welt. Fabian Löw
* Das Wochenduell: Die «Basler Zeitung» stellt sich in regelmässigem Abstand Themen, welche die Sportwelt bewegen – und beleuchtet dabei in einem Pro und Kontra beide Seiten. Zuletzt erschienen: Macht die Testerei im Profisport so noch Sinn? Ist die Tour de Suisse noch wichtig für den Schweizer Sport? Sind Platzstürme im Fussball vertretbar?
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