Ist die EU eine Egoisten-Union?
Vor dem entscheidenden EU-Gipfel liegen die Lösungen für die Eurokrise auf dem Tisch. Trotzdem werden diese wohl verworfen. Die Gegner argumentieren mit falschen Beispielen.

Inzwischen gibt es so etwas wie einen Konsens der führenden Ökonomen darüber, wie die Eurokrise zumindest stabilisiert werden könnte: Die Europäische Zentralbank (EZB) muss eine «Lender of last resort»-Funktion übernehmen und im grossen Stil europäische Staatsanleihen kaufen, die angeschlagenen Banken der Peripherieländer müssen direkt aus den Hilfsfonds unterstützt werden, und es braucht eine Art von Eurobonds. Zu dieser Lösung bekennen sich mittlerweile die wichtigsten Institutionen wie der IWF, die BIZ und die OECD und die wichtigsten Tenöre der internationalen Wirtschaftspresse wie «Economist», «Financial Times» oder «Wall Street Journal». Trotzdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass die EU-Staatsoberhäupter an ihrem Gipfel in den kommenden Tagen entscheidende Schritte in diese Richtung unternehmen werden. Der Grund dafür liegt in einem grossen Missverständnis, was Europa betrifft.
Die Einheitswährung basiert auf der Vorstellung, dass Mitgliedsländer ein Zweckbündnis abgeschlossen haben, mehr nicht. Trotz Euro bleiben sie souveräne Staaten ohne gegenseitige Verpflichtung. In diesem Sinn wurden die Verträge von Maastricht verfasst. Diese Vorstellung lässt sich mit folgendem Vergleich illustrieren: Euroland ist wie eine funktionierende Nachbarschaft in einem gutbürgerlichen Quartier: Man grüsst sich über den Zaun, füttert bei Abwesenheit Hund oder Katze und leiht sich einen Liter Milch aus, aber man bürgt nicht für die Hypothek des Nachbarn oder zahlt seine Spitalrechnung, wenn er schwer erkrankt.
Irland dient nicht als Vorbild...
Dieses Modell sieht in der Theorie verlockend aus. In der Praxis ist es jämmerlich gescheitert. Das wollen seine Befürworter, hauptsächlich die Nordländer, jedoch nicht eingestehen. Sie bemühen nach wie vor Vorbilder wie die Schweiz und die USA, weil sie glauben, dass dort dieses Nachbarschaftsmodell tatsächlich funktionieren würde. Das ist falsch. Schweizer Kantone und US-Bundesstaaten sind keine souveränen Ministaaten, keine autonomen Nachbarn. Sie haben vielmehr ein gemeinsames Dach und gemeinsame Verpflichtungen. Vor allem haben sie einen gemeinsamen Sozialstaat. Kein Schweizer, auch wenn er in einem strukturschwachen Gebiet lebt, muss Angst um seine AHV haben. In den USA sind Social Securtiy und Medicare ebenfalls Sachen des Zentralstaates. Das ist in einem modernen Staat kein Detail mehr, sondern die Hauptsache. Die AHV ist die grösste Umverteilungsmaschine in der Schweiz, und die amerikanische Staatskasse wäre mit einem Schlag saniert, wenn sie die Sozial- und Gesundheitskosten nicht mehr berappen müsste.
Dennoch gibt es vor allem im Norden nach wie vor wichtige Stimmen, die diese Tatsache schlicht leugnen und von einem Modell schwärmen, das nicht existiert oder das sie offensichtlich nicht begriffen haben. Diese Leute haben lange Irland als Vorbild hingestellt, das sich – im Gegensatz zu Griechenland – aus eigener Kraft aus dem Schuldenschlammassel befreien will. Inzwischen jedoch hat sich die Lage in Irland so dramatisch verschlechtert, dass man über die Grüne Insel gnädig den Mantel des Schweigens legt.
...und Lettland schon gar nicht
Dafür ist Lettland gross in Mode gekommen. Der baltische Kleinstaat ist zum Sparhelden und Vorbild für die Südländer erkoren worden. Doch was ist der Erfolg der Letten? Das Land hat tatsächlich im letzten Jahr ein bescheidenes Wirtschaftswachstum genossen. Zwischen 2008 und 2010 ist jedoch das Bruttoinlandprodukt um 25 Prozent eingebrochen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 20 Prozent, die Löhne der Staatsangestellten sind um einen Drittel gekürzt worden. Das treibt vor allem die jungen Menschen in Scharen ausser Landes. Rund 200'000 Letten haben seit Ausbruch der Krise ihre Heimat verlassen. Das entspricht rund zehn Prozent der Bevölkerung. Diese Massenauswanderung war zudem nur möglich, weil Lettland klein und die umliegenden Länder – hauptsächlich Skandinavien – in der Lage waren, diese Emigranten zu absorbieren. Was aber wäre in Europa los, wenn demnächst vier Millionen oder sechs Millionen Italiener auswandern würden?
Wer Lettland als Beispiel einer vorbildlichen Wirtschaftspolitik hinstellt, der sagt mit anderen Worten: Wir lösen unsere Krise, indem wir unseren eigenen Mittelstand in die Armut und unsere Jugend ausser Landes treiben. Was würde unser Bundesrat Ueli Maurer wohl zu einer solchen Politik sagen? Wer so etwas will, der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.
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