
Ohne Baum kein Weihnachten. Auf der ganzen christlichen Welt ist das so, selbst in der kirchenfeindlichen DDR musste das so sein. In einer Szene seines Romans «Der Turm» erzählt Uwe Tellkamp, wie die Abteilungen des Dresdner Universitätsspitals um das schönste Exemplar wetteifern und die Chirurgen in eine Fichtenschonung einbrechen, das für einen SED-Bonzen reservierte Prachtstück im Visier – und dabei auf einen Konkurrenten treffen: den Krankenhauspfarrer. Der beansprucht die älteren Rechte: «Der Brauch stammt aus dem Mutterschoss der Christenheit.»
Das ist natürlich Unsinn. Vielmehr hat sich die Kirche lange gegen den «heidnischen Brauch» gewehrt. Zwar gibt es Hinweise auf geschmückte Bäume schon in der frühen Neuzeit, aber massenhafte Verbreitung in den Stuben von Bürgern und Arbeitern findet er erst im 19. Jahrhundert. Es war die deutsche Militärführung, die geschmückte Tannen im 1870/71er-Krieg systematisch in Lazaretten, Unterkünften und Quartieren aufstellen liess, als Symbol der moralischen Überlegenheit des deutschen Wesens, das mit heiler Familie, Besinnlichkeit und Gemütstiefe gleichgesetzt wurde.
Der deutsche Waldund das deutsche Volk
Überhaupt ist der Wald als solcher – als Erholungsraum, Inbegriff der Natur, Gegenbild zu Stadt und Industrie – eine deutsche Erfindung. In einem Kapitel von «Masse und Macht» bezeichnet Elias Canetti den Wald als Nationalsymbol der Deutschen und begründet dies mit der Analogie zum Heer: einheitliche, gerade ausgerichtete Stämme – wie Soldaten.
Der Befund ist überholt, weil monokulturelle Wälder – die immer noch einen Grossteil des Nutzwaldes bilden – dem ökologischen Bewusstsein ein Graus sind. Canetti erkannte indes schon zur Zeit der Niederschrift das politisch Konturierte der Waldbegeisterung. Der Wald sollte dazu dienen, Deutschland von den Nachbarn abzugrenzen, vor allem von Frankreich.
Patienten, die aus dem Spitalfenster Bäume betrachten, genesen belegbar schneller.
Tatsächlich sieht die französische Zivilisation im Wald eher etwas, das gerodet werden muss, um Ackerland Platz zu machen. Das Dritte Reich setzte der Nationalisierung des Waldgefühles die Krone auf, bezeichnend ein Vortrag Hermann Görings: «Ewiger Wald – ewiges Volk».
Diese «Ewigkeit» suchte man mit allerlei Quellen und Rückprojektionen zu belegen. Dass das mit dem deutschen Wald «schon immer» so war, konnte man ja schon bei Tacitus lesen, bei dem Germania von «schrecklichen Wäldern» bedeckt ist.
Die Romantiker erfanden das Waldgefühl
Die politische Instrumentalisierung funktionierte, weil sie auf einer vorhandenen emotionalen Grundlage aufbauen konnte. Geschaffen haben sie die Romantiker: Sie waren es, die das Waldgefühl erfunden haben. Denn es ist nicht «natürlich», den Wald zu lieben. Lange Zeit mied der Mensch den Wald. In ihm konnte man sich verirren («Hänsel und Gretel» und andere Volksmärchen), dort hielten sich wilde Tiere und wilde Menschen auf; überhaupt ging es da unheimlich zu. Daniel Kehlmann hat diese Einstellung in seinem jüngsten Roman «Tyll», der im Dreissigjährigen Krieg spielt, anschaulich illustriert.
Die Aufwertung der «wilden Natur» zum Seelenraum ist das Werk romantischer Dichter und Maler, die in den Städten die Ursprünglichkeit verloren sahen und sie im Wald wiederzufinden glaubten und zur selben Zeit das Erhabene in der Schweizer Bergwelt entdeckten.
Die Dichtung der Romantik ist voll von Waldpoesie, von Wipfelrauschen, Hörnerklang und Lichtungszauber. Wilhelm Tieck erfand 1797 das Wort «Waldeinsamkeit». Von Eichendorffs «Taugenichts» bis zum «Waldweben» in Wagners «Ring des Nibelungen» wird der Wald besungen. Das hat Folgen, von den Heimatfilmen und Heftchenromanen mit schmucken Förstern bis hin zu den aktuellen Protesten der Waldschützer, in Stuttgart, im Hambacher Forst oder am Uetliberg: Der Wald ist der Ort, wo der Mensch gesundet und zum Eigentlichen findet, weshalb er wiederum vom Menschen als Vertreter des schnöden Profitstrebens geschützt werden muss.
Aufenthalt im Wald senkt den Blutdruck
Auch eine Erzählung wie Peter Stamms «Im Wald» inszeniert diesen als Gegenkraft zur Zivilisation. «Die anderen sind nicht normal, in ihren Häusern hinter ihren heruntergelassenen Rollläden», sagt das Mädchen Anja, das sich drei Jahre im Wald versteckt hat. Als Erwachsene muss sie in einer Neubausiedlung leben, einem «Niemandsland», zwischen Autowaschanlage und Shoppingcenter.
Aber: Auch wenn wir einsehen, dass unser «Waldgefühl» ein relativ neues Phänomen ist, eine Projektion enttäuschter Städter, pervertiert von Nationalisten: Kann dieses Gefühl nicht trotzdem wahr und echt sein? Dürfen wir unseren Sinnen, unserem ganzen Körper denn nicht trauen, der regelrecht aufatmet, wenn wir den Wald betreten – zum Joggen, Spazierengehen, Pilzesammeln, Picknicken?
Nein, das Gefühl trügt nicht, es lässt sich messen und wissenschaftlich belegen. Studien legen nahe, dass der Aufenthalt im Wald den Blutdruck und den Cortisolspiegel (der Stress anzeigt) senkt, dass er das Immunsystem stärkt und die natürlichen Killerzellen aktiviert. Und Phytonzide – also Duftstoffe, mit denen Bäume Schädlinge abwehren oder einander warnen – sollen unser Gehirn vor Krebs und Entzündungen schützen. Selbst Patienten, die aus ihrem Spitalfenster auf Bäume schauen, genesen nachweislich schneller. In Japan ist «Waldbaden» sogar eine reguläre Therapie.
Helfer im Einsatz gegen die Erderwärmung
Wälder tun nicht nur dem Einzelnen gut, sondern der Erde als ganzer. Sie fangen das Treibhausgas CO2 ein und geben dafür Sauerstoff ab. Eine Hektare Wald speichert pro Jahr 13 Tonnen CO2. Allerdings beträgt die CO2-Emission der Schweiz pro Kopf und Jahr rund 5 Tonnen. Das bedeutet: Die Wälder sind zwar Helfer gegen die Erderwärmung und Aufforstungsprogramme eine gute Sache – den Treibhauseffekt aufhalten allerdings können sie allein nicht.
Ihre Ökobilanz hat den Bäumen einen Boom von Büchern und Zeitschriften beschert, die die jüngsten biologischen Erkenntnisse populärwissenschaftlich verbreiten. Der Pulitzerpreisträger Richard Powers hat nordamerikanische Redwoods zu den Helden seines jüngsten Romans «Die Wurzeln des Lebens» gemacht. «Die Zeit» und «Das Magazin» haben kürzlich grosse Beiträge über den «Organismus Wald» publiziert.
Dass Bäume untereinander über Duftstoffe kommunizieren, ist unbestritten.
Unter den Waldpropheten erreichen die Bücher des deutschen Försters Peter Wohlleben die höchsten Auflagen. «Das geheime Leben der Bäume» steht seit drei Jahren auf der Bestsellerliste. Sein Rezept: Er vermenschlicht Bäume, indem er chemische Prozesse als Angst und Kummer interpretiert und Waldwesen «Freundschaften» schliessen lässt.
Dass Bäume untereinander über Duftstoffe kommunizieren, ist unbestritten. Die Vermenschlichung bringt Wohlleben aber in die Nähe von Esoterikern, welche Baumstämme umarmen und meinen, der Baum sei eigentlich der bessere Mensch, weil er sich von Licht, Luft und Wasser ernährt, niemandem wehtut, nichts zerstört und seine Gaben grosszügig verteilt.
Der Christbaum kann das alles nicht mehr, seine Wurzeln sind gekappt. Dafür spielt er seine Rolle als Gemütsmaschine immer noch gut.
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Ist der Baum der bessere Mensch?
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