Wochenduell: Sport in EndlosschlaufeIst das Olympia-Programm an den Winterspielen überladen?
Aerials, Biathlon-Mixed-Staffeln, Alpin-Team-Events: In Peking kämpfen 2900 Sportler in 109 Wettkämpfen um Edelmetall. Für die einen ist das zu viel und für eingefleischte Sportfans nicht genug.

Ja, die Flut an Wettkämpfen verwässert das Programm. Das geht zulasten der Leistung der Athleten – und der Sportfan kommt schon gar nicht mehr nach.
Am Wochenende, zum Abschluss der Olympischen Spiele in Peking, gibts für den Sportfan noch mal die volle Dröhnung an Wettkämpfen und Entscheidungen: Die Ski-Freestyler springen in der Halfpipe um Edelmetall, bei den Eiskunstläufern dürfen die Paare ihr Können im Kurzprogramm zeigen und die Skifahrer spannen beim Team-Event zusammen und fahren im Parallel-Riesenslalom um Bestzeiten. Es wird der Abschluss von ereignisreichen Spielen sein, die für viel Gesprächsstoff gesorgt haben. Neben dem nicht akzeptablen Umgang bezüglich Menschenrechte und der Unterdrückung von Minderheiten im Land gab Peking nichts her, was nachhaltige und sinnvolle Winterspiele ausmachen: Die Skifahrer donnerten die Kunstschnee-Piste hinunter, bei den Biathleten verblies der starke Wind viele Medaillenträume und Rennen bei den Langläufern mussten nach hinten verlegt werden, weil die Temperaturen ins Bodenlose sackten.
Das grösste Problem der Spiele lag aber nicht am Austragungsort, sondern am Programm selber: Der Winter-Megaevent ist völlig überladen, mit unnötigen Staffel-Wettbewerben und neu geschaffenen Disziplinen, die das Programm verwässern und von den ursprünglichen Wettkämpfen früherer Tage ablenken.
Bei den Winterspielen in Calgary 1988 beispielsweise kämpften 1400 Athleten in 46 Wettkämpfen um Edelmetall. In Peking nun treten 2900 Sportler in 109 Wettbewerben an, das sind nochmals sieben mehr als in Pyeongchang vor vier Jahren.
Das übervolle Programm schafft weder Mehrwert noch zusätzlich Spannung. Denn auch ultrainteressierte Sportfans kommen ob dem Angebot gar nicht mehr nach. Lieber das Monobob-Rennen verfolgen oder lieber bei der Single-Mixed-Staffel der Langläufer mitfiebern? Aerials im Mixed-Team oder doch lieber Buckelpiste? Das Schweizer Fernsehen überträgt allein 300 Stunden live, neben dem Hauptsender SRF 2 wird das Geschehen auf sechs parallel laufenden Livestreams gezeigt. Sport in Endlosschlaufe.
Die Wettbewerbs-Flut trifft vor allem aber diejenigen, die neben den Vermarktern und Fernsehsendern am meisten davon profitieren sollten: die Athleten. Die Langläufer absolvierten in den knapp zweieinhalb Wochen sechs Wettkämpfe, die Biathleten und die Ski-alpin-Athleten ebenso viele. Das geht zulasten der Leistung, wenn die Beine und die Lunge irgendwann nicht mehr mitmachen, der Kopf nicht mehr bereit ist für noch mehr Höchstleistung. Und reicht es dann einem Athleten doch für die Goldmedaille, dann besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Menschen am Fernseher gerade bei einer anderen Disziplin mitfiebern. Tobias Müller
Nein, es ist gerade die Vielseitigkeit der Disziplinen, von der die Olympischen Winterspiele leben.
Vergangenen Donnerstag gewannen die USA die Goldmedaille bei den Mixed-Team-Aerials im Ski Freestyle. Am gleichen Tag konnte sich Deutschland vor Österreich und Lettland den ersten Platz in der Team-Staffel beim Rodeln sichern. Zugegeben, es haben wohl nur die akribischsten Olympia-Fans diese Erfolge mitbekommen, doch sollten die besagten Wettbewerbe deswegen gleich vom olympischen Winterprogramm entfernt werden?
Diese Frage muss man klar mit Nein beantworten. Denn schlussendlich profitieren sowohl die Sportlerinnen und Sportler als auch die Zuschauer vor den Bildschirmen von der grossen Bandbreite an Disziplinen, welche alle vier Jahre während zweieinhalb Wochen angeboten wird.
Es ist doch gerade diese Vielseitigkeit, von der die Olympischen Winterspiele leben. Auf der einen Seite stehen die grossen Veranstaltungen wie die alpinen Abfahrten oder das Turnier bei den Eishockeyspielern, die sich beim Publikum riesiger Beliebtheit erfreuen. Doch auf der anderen Seite sind es auch die kleineren Disziplinen, die genauso zum unvergleichlichen Sporterlebnis der Spiele beitragen.
Ohne Weiteres kann man sich in einer freien Minute von den belastungsfähigen Knien und akrobatischen Lufteinlagen auf der Buckelpiste oder den waghalsig hohen Geschwindigkeiten der Skeleton-Fahrerinnen und Fahrer, welche sich kopfvoran den Eiskanal hinunterstürzen, begeistern lassen. Spektakel ist in Peking überall geboten, und wem das nicht gefällt, der muss ja den Fernseher gar nicht erst einschalten.
Zudem profitieren die Sportarten von der internationalen Bühne, die ihnen bei den Olympischen Spielen geboten wird. Nirgends sonst können sie so gut Werbung in eigener Sache machen und potenziellen Nachwuchs begeistern.
Und für die Athletinnen und Athleten aus Randsportarten ist eine Teilnahme an dem Megaevent das unbestrittene Highlight der Karriere. Sollte diese Möglichkeit plötzlich wegfallen, würde die jeweilige Sportart massiv an Attraktivität verlieren und das Leistungsniveau langfristig merklich sinken. Linus Schauffert
* Das Wochenduell: Die «Basler Zeitung» stellt sich ab sofort in regelmässigem Abstand Themen, die die Sportwelt bewegen – und beleuchtet dabei in einem Pro und Kontra beide Seiten. Zuletzt erschienen: Ist Xherdan Shaqiris Wechsel zu Chicago Fire eine gute Entscheidung? Ist Tom Brady der beste Teamsportler der Geschichte? Ist Odermatt bereits einer der besten Fahrer der Geschichte? Ist der Afrika-Cup ein attraktiver Fussballwettbewerb? Braucht es für Wengen zusätzliche Sicherheitsmassnahmen? Sind die Medaillenträume von Dario Cologna nun vorbei?
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