Schweiz-Verteidiger Jonas Siegenthaler«In Thailand starren mich alle an»
Rassismus und Aufmerksamkeit lassen ihn kalt, die Vorstellung einer WM-Medaille treibt ihn an. Der Zürcher Jonas Siegenthaler ist ein Charakterkopf im Nationalteam.

Es geschah während eines Spiels in der National Hockey League, Kameras und Mikrofone überall, dazu die Situation in den USA, Demonstrationen, die «Black Lives Matter»-Bewegung: «Berücksichtigst du all das, sollte doch jedem Spieler klar sein, was ein Wort auslösen kann», sagt Jonas Siegenthaler.
Dennoch kam er, dieser Spruch eines Gegners. Siegenthaler empfand ihn nicht «voll rassistisch, aber unnötig». Der Verteidiger begriff ihn zuerst gar nicht. Die Teamkollegen klärten ihn auf, er sei als «Mischling» bezeichnet worden.
Siegenthaler sagt: «Jemand anderes würde aus dieser Bezeichnung ein Theater machen. Mich lässt so was eigentlich kalt.» Er streicht sich die Barthaare zurecht. Sie sind getrimmt als verbundene Einheit aus Oberlippen- und Kinnbart – was seinem verbindenden Charakter entspricht. Der 24-Jährige ist Schweizer, Thailänder, «rein optisch könnte ich auch Mexikaner sein».
Er wuchs in Zürich-Affoltern auf, der Vater Schweizer, die Mutter Thailänderin, die Schulklasse voller unterschiedlicher Kulturen. «So sollte ein Kind aufwachsen: mit der Philosophie, dass trotz aller Unterschiede jeder gleich ist.»
«‹Du huere Tschäpse›, in breitem Berndeutsch, ich habs kaum verstanden.»
Früh begann er mit Eishockey. Der Zürcher erinnert sich an ein Spiel im Nachwuchs gegen Bern, «du huere Tschäpse» hat er gehört, «in breitem Berndeutsch, ich habs kaum verstanden». Der Junior Siegenthaler dachte: «Sollte nicht passieren, ist aber nicht weiter schlimm.» Der Nationalspieler Siegenthaler denkt das noch heute.

Wesentlich stärker als Rassismus spürte er Neid. Auf allen Stufen war er rasch bei den Besten: Der Verteidiger spielte mit 15 bei den Elitejunioren, mit 16 in der National League B, mit 17 bei den ZSC Lions in der höchsten Liga. «Wenn wegen dir ein vier Jahre älterer Mitspieler zusehen muss, sind Neid und ‹Hate› nie weit weg», sagt Siegenthaler. Nun ist er in Riga, spielt seine erste Weltmeisterschaft und meint: «Irgendwie habe ich mir das alles mit viel Arbeit verdient.»
Zum ersten Mal musste er beissen
Siegenthaler geniesst die Premiere trotz Freiheitsentzug. Das Turnier steht am Abschluss einer Saison, die für den Abwehrspieler eine mühsame gewesen ist. Er wollte in seinem dritten Jahr bei Washington den nächsten Schritt machen. Stattdessen fand er sich nach der Verpflichtung des legendären, aber nicht mehr taufrischen Zdeno Chara (44) auf der Tribüne wieder.
Das war schwierig für den Zürcher, ungewohnt auch, hatte er doch in seiner Karriere einzig den Vorwärtsgang benötigt. «Zum ersten Mal so richtig auf die Zähne beissen, das tat schon gut», sagt er. Ihm half sein thailändischer Wesenszug: «In Thailand haben die Leute immer ein Lächeln im Gesicht. Diese Zufriedenheit und das positive Denken wurden zu meiner Mentalität.»

Zupass kam Siegenthaler, dass er im April von Washington zu New Jersey getradet wurde. Er wechselte von der ältesten zur jüngsten NHL-Mannschaft. «In Washington haben die meisten Spieler Familie, Kinder. Bei den Devils geht es im positiven Sinn tollpatschiger zu und her.»
Trotz auslaufenden Vertrags bei New Jersey sagte er Patrick Fischer für die Weltmeisterschaft zu. Chicagos Pius Suter wollte in ähnlicher Situation kein zusätzliches Verletzungsrisiko eingehen. Doch New Jerseys General Manager Tom Fitzgerald nahm Siegenthaler die Entscheidung quasi ab, indem er ihm die Verlängerung seines Vertrags mündlich bestätigte.
In seiner zweiten Heimat ist er eine Attraktion
Siegenthaler erhielt in dieser Saison als einer von zwölf Schweizern Eiszeit in der NHL. Dennoch nimmt er in der weltbesten Liga eine Sonderstellung ein: Er ist der erste und einzige NHL-Spieler mit thailändischem Pass.
«Sie sollten einmal sehen, was los ist, wenn ich in Thailand bin.»

Den Umstand empfindet der Doppelbürger als speziell. Letztlich lässt ihn aber auch diese Aufregung kalt. Die Gelassenheit zeichnet den Eishockeyspieler und Menschen Siegenthaler aus. Er sei auch keiner, der auffallen und sich zeigen wolle. «Aber genau das tue ich. Sie sollten einmal sehen, was los ist, wenn ich in Thailand bin.»
Alle ein bis zwei Jahre besucht er das Dorf, in dem seine Mutter aufgewachsen ist: ländliches, einfaches Leben an der Grenze zu Kambodscha, nur Einheimische, keine Touristen. «Dann komme ich mit meiner Grösse, dem Thai-Einschlag im Gesicht, und alle starren mich an. Wirklich alle.» Mit seinen 190 Zentimetern ist er im ländlichen Thailand eine Attraktion, als Eishockeyspieler sowieso.
«Wir gehören zu den Favoriten in unserer Gruppe. So wollen wir auch auftreten.»
Wer Siegenthalers zweite Heimat in der Eishockey-Weltrangliste sucht, wird zwischen Bosnien und Kuwait auf Platz 50 fündig. Das Ranking endet bei den Philippinen und Rang 54. Den Verwandten in Thailand zeigt er Eishockey-Videos auf Youtube, «aber ich glaube nicht, dass sie gross interessiert, was an der WM läuft».
Schweizerseits ist das Interesse gewiss. Nach zwei Siegen zum Auftakt misst sich das Nationalteam heute mit Schweden. Auch Siegenthaler verkörpert das neue Selbstbewusstsein im Team. «Wir gehören zu den Favoriten in unserer Gruppe. So wollen wir auch auftreten.» Vor Turnierbeginn sagte er, er freue sich auf zehn Partien in Lettland, was die Teilnahme an den Medaillenspielen bedeuten würde.
Von der WM erhofft er sich auch einen Boost für die kommende Saison. Dannzumal will sich Siegenthaler in New Jersey als Top-4-Verteidiger etablieren. Und auf ein spezielles Zusammentreffen freut er sich bereits jetzt – «schliesslich habe ich mit einem gewissen Typen nach seinem Spruch noch eine kleine Rechnung offen».
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