In Kiew stehen die Barrikaden in Flammen
Die kleinen Zugeständnisse vom ukrainischen Präsidenten Janukowitsch wurden von der Opposition abgelehnt. In der Nacht gab es schwere Strassenschlachten. Ministerpräsident Asarow ist offen für einen Rücktritt.
Die ersten Zugeständnisse der Regierung im Machtkampf um die Ukraine haben keine Entspannung gebracht: Erneut ist es in Kiew zu schweren Zusammenstössen zwischen Protestlern und Polizisten gekommen. Aufgebrachte Demonstranten lieferten sich im Herzen der Hauptstadt schwere Strassenschlachten mit Bereitschaftspolizisten. Mehrere Menschen wurden verletzt, etliche weitere festgenommen.
Unter dem Druck der Unruhen, die inzwischen fast die Hälfte der Ukraine erfasst haben, hatte Präsident Wiktor Janukowitsch nur wenige Stunden zuvor nachgegeben: Das Kabinett solle kommenden Dienstag bei einer Sondersitzung umgebildet sowie eine Amnestie für Dutzende inhaftierte Oppositionelle gewährt werden, kündigte er am Freitag bei einem Treffen mit religiösen Führern an. Auch wolle er die strengen Anti-Demonstrationsgesetze lockern.
Barrikaden stehen in Flammen
Doch der Opposition ging das nicht weit genug. Der einzige Weg, um die Strassenproteste zu beenden, sei der Abgang Janukowitschs, betonte Oppositionsführer Witali Klitschko. «Noch vor einem Monat wäre der Maidan nach Hause gegangen», erklärte er in Anlehnung an den Kiewer Unabhängigkeitsplatz, der inzwischen zum Synonym für die Proteste geworden ist. «Heute fordern die Leute den Rücktritt des Präsidenten», fügte der ehemalige WBC-Schwergewichts-Boxweltmeister hinzu.
Wenig später brannten Demonstranten am Maidan die Barrikaden ab, die sie aus alten Möbeln und Eistüten errichtet hatten. Riesige Feuerbälle erleuchteten den Nachthimmel über der Altstadt Kiews, dichte schwarze Rauchwolken stiegen aus abgefackelten Reifen auf. Demonstranten schleuderten Rauchbomben, Steine und Feuerwerkskörper auf Bereitschaftspolizisten. Die Beamten reagierten mit dem Einsatz von Tränengas. Dutzende Verletzte wurden in behelfsmässig eingerichtete Kliniken in der Umgebung gebracht.
«Wir werden die Behörden dazu zwingen, uns zu respektieren», sagte einer der Demonstranten, der 27-jährige Artur Kapelan. «Nicht sie, sondern wir werden die Bedingungen eines Waffenstillstands vorgeben».
Ministerpräsident offen für Rücktritt
Der ukrainische Ministerpräsident Nikolai Asarow zeigt sich in Zeitungsinterviews zu einem Rücktritt bereit, falls dies zur Lösung des Konflikts in der Ukraine beitragen würde. Den Rücktritt von Präsident Wiktor Janukowitsch bezeichnet er aber als «nicht realistisch».
Direkt nach seinem Rücktritt gefragt, sagte Asarow im Interview mit den Schweizer Zeitungen «Neue Zürcher Zeitung» und «Le Temps» am Samstag wörtlich: «Wenn das helfen würde, den Konflikt zu lösen und die Gewalt zu stoppen, ist das keine Frage. Die Interessen des Landes stehen für mich an erster Stelle.»
Mehr oder weniger ausgeschlossen hat Asarow einen Rücktritt von Präsident Janukowitsch, wie dieser es ebenfalls getan hatte. «Es gibt eine Verfassung und Gesetze. Egal, wie lange sie über einen Rücktritt reden, er ist nicht realistisch», sagte Asarow. Auch die Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen schlug Asarow in den Wind. Schon in acht Monaten würden die regulären Wahlen 2015 vorbereitet.
«Ich habe Angst vor dem, was uns bevorsteht»
Janukowitsch betreibe eine «Hinhaltetaktik», sagte der Oppositionspolitiker Witali Klitschko der «Bild»-Zeitung (Samstagsausgabe). Janukowitsch hatte nach einem Treffen mit EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle am Nachmittag angekündigt, die im Eilverfahren erlassenen strikten Beschränkungen der Versammlungsfreiheit wieder zu ändern. Dies solle auf einer Sondersitzung des Parlaments am Dienstag «geregelt» werden. Überdies werde er die Regierung umbilden, sagte Janukowitsch. Die Kernforderungen der Opposition – seinen eigenen Rücktritt und vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen – will er aber nicht erfüllen. Sollte es keine politische Einigung geben, dann werde er «alle legalen Mittel» ausnutzen, drohte er.
Klitschko warf dem Präsidenten daraufhin eine mangelnde Verhandlungsbereitschaft vor. «Ich habe Angst vor dem, was uns in den nächsten Stunden und Tagen in der Ukraine bevorsteht», sagte er der «Bild»-Zeitung. «Janukowitsch hat mit seiner Hinhaltetaktik und Pseudo-Verhandlungen diejenigen gestärkt, die auf den Strassen mit Gewalt reagieren wollen. Ein erneutes Blutvergiessen wäre deshalb allein seine Schuld.»
Video löste Empörung aus
Zur aufgeheizten Stimmung bei den bis vergangenen Sonntag relativ friedlichen Protesten trug vor allem die kürzliche Verschärfung des Demonstrationsrecht bei. Neben dem Tod zweier Demonstranten bei Zusammenstössen diese Woche wurde die Wut auch durch den Bericht eines Mannes angefacht, der nach eigenen Angaben nach seiner Verhaftung an einer Barrikade von Polizisten bei klirrender Kälte nackt ausgezogen, geschlagen und gedemütigt worden war. Ein im Internet verbreitetes Video von der Misshandlung löste einen Aufschrei der Empörung aus.
Anlass der Massenproteste war zunächst Janukowitschs Abkehr von einem bereits ausgehandelten EU-Assoziierungsabkommen, doch richtete sich der Widerstand rasch allgemein gegen seine Regierung. In der Zwischenzeit erhielt Janukowitsch die Zusage für Milliardenkredite von Russland.
Brüssel setzte seine Vermittlungsbemühungen im Machtkampf um die Ukraine fort: EU-Erweiterungskommissar ¦tefan Füle flog am Freitag nach Kiew, um mit Janukowitsch und der Opposition eine Lösung zu finden.
AP/AFP/sda/ldc/chk
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