In der Welt der Coachs
Der HC Davos öffnete fünf Tage lang alle Garderobentüren – sieben Episoden aus dem Inneren einer Eishockeymannschaft.
Was passiert eigentlich hinter den Türen eines Eishockeyclubs? Wer entscheidet was, wer ist den Spielern am nächsten, und wie trimmt man eine Mannschaft zum Sieg? Ein exklusiver Einblick beim HC Davos zeigt, was Fans normalerweise verborgen bleibt.
1. Das emsige Treiben: Eine Drittelspause ist keine wirkliche Pause

Aufmunterung: Headcoach Christian Wohlwend spricht in der ersten Drittelspause zu seinen Spielern. Foto: Kristian Kapp
«Pause» heisst sie ja, diese gut viertelstündige Unterbrechung zwischen zwei Dritteln im Eishockey. Doch wer diese Minuten in einer Garderobe verbringt, merkt schnell, dass das emsige Treiben viele Facetten, aber sehr wenig mit einer wirklichen Ruhepause zu tun hat. Der Tatort ist Davos, Spieler und Coachs des Heimteams kommen gerade von den ersten 20 Minuten des Spitzenspiels gegen Zug zurück in ihre heiligen Räume.
Und überall ist etwas los. Der Video-Coach ist mit dem Goalietrainer zurück von der Pressetribüne auf der anderen Seite des Stadions – sie sind die einzigen zwei vom Coaching-Staff, die das Spiel nicht an der Bande verfolgen. Video-Coach Patrice Arnold zeigt Cheftrainer Christian Wohlwend sofort eine Szene, in der eigentlich nichts passiert – hätte aber Marc Wieser im richtigen Moment den richtigen Pass gespielt, dann wären zwei Davoser gegen einen Zuger aufs Tor gefahren.
«Ich zeige es ihm gleich», ruft Wohlwend, stürmt aus dem Trainerbüro in die Spielergarderobe, holt seinen Stürmer zu sich. Ein anderer Stürmer, Perttu Lindgren, ist in der Zwischenzeit schon im Trainerbüro, er möchte sich eine Szene des Davoser Powerplay anschauen – er und seine Kollegen rätseln über das Zuger Forechecking in solchen Situationen. Lindgren muss warten, Wohlwend kommt gerade mit Wieser zurück. Kaum fertig, rennen alle in den grossen Gemeinschaftsraum neben der Spielergarderobe, wo Lindgrens Kollegen bereits warten. Johan Lundskog, Assistenztrainer und zuständig fürs Powerplay, ist ebenfalls dabei. Danach eilen Wohlwend und Lundskog sofort zurück ins Trainerbüro, die Zeit ist knapp, die Ansprache vor dem Team vor Drittel 2 muss besprochen werden: Was soll der Mannschaft gesagt werden, was nicht? Raus aus dem Trainerbüro, rein zu den Spielern, Taktikboard, Ansprache, ein wenig Lob, ein wenig Tadel, vor allem aber laute Motivation. 15 Minuten sind um, das Spiel geht gleich weiter – das war alles, bloss keine Pause für Wohlwend und seine Crew.
2. Die Ruhe: Gleicher Ort, wie Tag und Nacht

Es gibt sie auch, die ruhigen Momente an gleicher Stelle. Die allerstillsten kennt nur Waltteri Immonen. Der Assistenztrainer, zuständig fürs Penalty-Killing, ist nicht nur Früh-zu-Bett-Geher, sondern auch Frühaufsteher. Wann immer möglich, ist er spätestens um 6 Uhr da. Hin und wieder trifft er noch den Reinigungsmann an, der dafür sorgt, dass eben spätestens um 6 alles sauber ist. Die beiden kennen sich, das gegenseitige Hallo gehört fast schon zum Ritual.
Rund eine Stunde wird Immonen nun alleine sein, die Spieler werden sogar erst über zwei Stunden später eintrudeln. «Ich mag diese frühen Morgenstunden. Sie sind meine ruhige Privatzeit, ich kann arbeiten, und keiner stört mich», erklärt Immonen. Den Morgen verbringt er vorwiegend mit dem Schneiden von Videomaterial. Er studiert, wie sich die Davoser Unterzahlspieler im letzten Spiel verhielten. Gleichzeitig muss er alles über das Powerplay des nächsten Gegners wissen, auch diese Bilder werden akribisch studiert.
Was der gewöhnliche Fan als unwichtiges Detail abtut, ist für Immonen essenziell: Die Schussseiten aller gegnerischen Powerplay-Spieler, ihre Tendenzen zu Schuss oder Pass, ihre Laufwege in allen erdenklichen Situationen.
Immonen weiss aber auch: «Ich will nie sagen, dass der Gegner das und das immer macht.» Das sei ein schlechtes Wort, dieses «immer». Es drohen ja immer Überraschungen mitten im Spiel. Immer wieder geht Immonen indes einen Kaffee holen: Kaffee sei wichtig, sagt er und lacht. Seinen Konsum von bis zu 30 Tassen am Tag aus früheren Zeiten beim EV Zug habe er aber mittlerweile drastisch heruntergefahren. «Und dort war es vor allem Filterkaffee!», betont er.
3. Frühstück: Alles ist ein Thema, ausser Eishockey

Im Clublokal neben der Eishalle sind jeweils schon um 7 Uhr die Tische gedeckt, das Buffet bereit. Das gemeinsame Frühstück wird empfohlen, ist für die Spieler allerdings nicht obligatorisch. Und so sind an diesem Montagmorgen aussschliesslich die Assistenztrainer da, Wohlwend, generell kein «Zmorga-Mensch», wie er sagt, passt diesmal. Jeder hat seine Angewohnheiten, der eine will unbedingt Cashewnüsse, die ausgerechnet an diesem Morgen nicht serviert wurden, der andere will sein Spiegelei stets beidseits gebraten.
Und wenn nun je ein Coach für Powerplays und Penalty-Killings, ein Goalietrainer, sowie ein Athletic Coach am selben Tisch sitzen, dann kann es ja nur um Eishockey oder zumindest um Sport gehen.
Doch weit gefehlt. Es wird, zumindest an diesem Morgen, über alles mögliche gesprochen, ausser Eishockey. Für die Lacher sorgt Lundskog. Als das Thema auf Royals kommt, hat er aus der Klatschpresse seiner Heimat ein paar skurrile Storys und Interviews parat von Carl, dem 16. Gustaf, König von Schweden.
4. Wo es eng wird: Die Analyse im Intimen

Die Kommunikation zwischen Trainern und Spielern geschieht auf diverse Arten und Weisen. Jene zwischen Peter Mettler sowie Joren van Pottelberghe und Sandro Aeschlimann erfolgt im intimsten Rahmen. Mettler ist Goalietrainer, die beiden sind «seine Jungs». Nach jedem Heimspiel nimmt Mettler die beiden schon bald nach Ende der Partie mit in den kleinsten Raum der vielen Garderoben.
Hier haben knapp vier Leute Platz, und so soll es sein, denn hier hören keine Mitspieler oder andere Trainer zu – die Goalie-Welt ist eine spezielle. Es ist eine Art Ritual von Goalietrainern, jeder macht dies auf seine Art und Weise. Mettler macht es so: Jener Torhüter, der gerade gespielt hat, erzählt seinen (Spiel-)Abend nach.
Der Beobachter staunt: Van Pottelberghe kann sich an praktisch alle Schüsse auf ihn im Detail erinnern: Welcher Gegenspieler es war, wie die Torchance entstand, welcher eigene Verteidiger in der Nähe war, wie richtig oder falsch die eigene Parade war. Und es geht weiter: Mettler möchte auch jede einzelne Situation beschrieben haben, in der sein Torhüter mit dem Stock den Puck spielte. Auch hier geht es um Details, um Szenen, die die meisten Zuschauer nicht einmal bemerkt haben dürften. Van Pottelberghe erinnert sich an alle, ausser an eine – ausgerechnet jene, in der er eine falsche Entscheidung traf und für Puckbesitz beim Gegner sorgte.
Davos hat 1:2 verloren, Van Pottelberghe aber gut gespielt, erhält darum Lob, aber auch Kritik. «Das hat nichts mit den Anzahl Gegentoren zu tun», erklärt Mettler später. «Als Joren kürzlich 1:0 gewann, gab es vor allem Kritik, weil er trotz null Gegentreffern keinen wirklich guten Match spielte.»
Als Van Pottelberghe nach gut fünf Minuten mit seiner Eigenanalyse fertig ist, muss auch Ersatzmann Aeschlimann Lob und Kritik an der Leistung seines Kollegen anbringen. Die beiden wechseln sich in ihrer Rolle regelmässig ab, spielen bislang gleich oft, Davos hat auch kurz vor dem Playoff noch keine Nummer 1 oder 2.
5. Von wegen trocken: Der Humor Johan Lundskogs

Es gibt auch ganz andere Sitzungen mit Trainern oder Spielern. Weniger intim, impulsiver, lauter – auch mal mit schallendem Gelächter. Zum Beispiel dann, wenn Johan Lundskog zu den Meetings mit den Powerplay-Spielern lädt. Der Schwede ist in erster Linie fürs Überzahlspiel zuständig, er macht quasi die umgekehrte Arbeit Immonens: Er studiert das Unterzahlspiel des Gegners, und gerade in dieser Woche steht er vor der Herausforderung, dass sein Team hintereinander auf Zug und Langnau trifft – die beiden Teams spielen in Unterzahl komplett verschieden.
Wer lauscht, wie Lundskog mit seinen jeweils fünf Powerplay-Spielern im Büro kommuniziert, hört zunächst vor allem sehr viele technische Informationen. Also eigentlich nichts zum Lachen. Allerdings versteht es Lundskog, unverhofft und mit der genau gleich monotonen Stimmlage plötzlich an Spieler gerichtete Sprüche in seine taktischen Anweisungen zu streuen. «Wie war deine erste Nacht in Davos, Jesse? Schönes Hotel, grosses Bett?», fragt er plötzlich den erst kürzlich eingetroffenen finnischen Stürmer-Neuzugang Jesse Mankinen. Dann gehts skandinavisch trocken hin und her: «Danke, gut. Aber es war meine zweite Nacht, ich bin seit vorgestern hier.» – «Ich weiss, ich meinte auch vorgestern. Sei kein Klugscheisser. Nicht mit mir, mein Freund.» Und weiter gehts, ohne Luft zu holen, mit der nächsten taktischen Anweisung.
Die fast ausschliesslich aus jungen Schweizern Spielern gebildete zweite Powerplay-Formation bringt Lundskog kurz aus der Fassung, als er erneut mitten in einen Monolog aus «Druck machen an der Bande» und «Seitenwechsel mit dem Puck» den Satz «Bitte stellt eure Fragen nicht immer gleichzeitig, ich versteh sie bei dieser Euphorie hier drin sonst nicht. Danke!» platziert. Die fünf Spieler schauen sich an, lachen los, verstehen den Wink: Es hat noch keiner eine Frage gestellt, alle haben bloss stets nickend zugehört, obwohl alle Coachs, auch Lundskog, immer wieder den Dialog fordern. «Das ist wichtig, denn sehr oft kommen die besten Inputs von den Spielern und nicht von den Trainern», sagt auch Penalty-Killing-Coach Immonen.
6. Neben dem Eis: Hier ist auch viel Geduld gefragt

Den persönlichsten Kontakt zwischen Spielern und Trainern haben oft weder Headcoach Wohlwend noch seine Assistenten Immonen, Lundskog, Mettler oder Arnold. Athletic Coach Steven Lingenhag, Physiotherapeut Philipp Deck und Masseur Thomas Ritter kümmern sich nicht nur, aber auch um die verletzten Spieler. Und wenn Hockeyspieler etwas gemeinsam haben, «dann ist das die Ungeduld», sagt Félicien Du Bois, verletzter Verteidiger, der hofft, auf Playoffbeginn in einer Woche wieder bereit zu sein – die Zeit wird knapp.
Der Mittwoch ist normalerweise Frei-Tag im Betrieb eines Eishockey-Clubs, das Training ist dann meist freiwillig, es sind vor allem die Verletzten und Angeschlagenen, die am Morgen in die Garderobe kommen. Im Kraftraum kümmert sich Coach Lingenhag um sie, an diesem Tag ist es Benjamin Baumgartner, der verletzte Stürmer, dem er sich vorwiegend annimmt. Der Österreicher kommt dem Comeback immer näher, er brennt förmlich auf den Einsatz, seine Ungeduld bekommen nicht nur Lingenhag, sondern später auch seine Mitspieler zu spüren.
Baumgartner möchte schon zwei Tage später gegen Langnau spielen, für Lingenhag kommt das zu früh. Als er den 19-jährigen Teenager nach einer intensiven Übung nach dem Schmerzempfinden auf einer Skala von 1 bis 10 fragt, antwortet der Österreicher mit «1, vielleicht 2». Dennoch empfiehlt Lingenhag später Headcoach Wohlwend, mit dem Comeback Baumgartners zu warten.
Baumgartner geht kurz aufs Eis mit anderen Spielern – und kaum ist er zurück, gehts schnell: Sofort duschen, umziehen, ein «Ciao» – und weg ist er. Die anderen Spieler schauen sich an: Was ist mit dem los? Ein anderer, der vom Eis kommt, sorgt für die Auflösung und für Lacher: «Beni ist wütend, weil er auf dem Eis eine Wette verlor. Er traf bei einer Übung kein einziges Mal ins Tor.» Als Headcoach Christian Wohlwend später diese Story hört, gefällt sie ihm: «Beni will immer besser werden. Genau darum ist er so gut und schon so weit für sein Alter.»
7. Die neue Regel: Kritik erst am Tag nach dem Spiel
Der Headcoach ist Wohlwend. Er lässt seine Assistenten aber viel mitreden und auch wirken. In der zweiten Drittelspause gegen Zug hält nicht er, sondern Lundskog die Ansprache vor der Mannschaft, das ist nichts Aussergewöhnliches.
Auch die Eistrainings werden immer wieder mal vom Schweden, aber auch Immonen oder Mettler geleitet. «Die Spieler sollen nicht immer nur meine Stimme hören», sagt Wohlwend. Es ist Freitag, am Abend trifft die Mannschaft zu Hause auf Langnau und reist am Tag danach zum EHC Biel.
Bevor um 10 Uhr Videocoach Arnold den Spielern sein Material über den nächsten Gegner präsentiert, tritt nun Wohlwend vor die Mannschaft. Er spricht aber weder über Taktik noch über die SCL Tigers oder gar Biel. Es geht nicht einmal direkt um Eishockey, sondern eine neue Regel für alle im Team, Spieler, Betreuer und Coachs.
Wohlwend spricht wie immer, wenn seine Assistenten oder die ausländischen Spieler zugegen sind, Englisch – und wechselt dann mitten im Satz zu Deutsch und wieder zurück. Seine Forderung: Keine negativen Voten oder Gedanken mehr an Match-Tagen. Weder jetzt am Morgen noch während des Spiels oder danach. Kritische Voten seien ab sofort erst am Folgetag erlaubt und dann auch explizit erwünscht. «Fordert euch heraus! Aber nicht am Match-Tag!»
Wohlwend liess sich zu diesem Entscheid am Vortag inspirieren, als der deutsche Mentaltrainer Thomas Baschab über zwei Stunden lang vor Spielern und Trainern referierte. Die neue Regel gelte natürlich auch für ihn selbst, sagt Wohlwend. «Gelingt mir dies immer? Natürlich nicht. Aber ich arbeite daran.»
«All Access» beim HCD
Vom 17. bis 21. Februar hiess es für den Autor dieses Artikels: Freier Zutritt in alle Garderoben beim HC Davos. Nebst diesem Artikel entstand die vierteilige Online-Serie «All Access» mit exklusiven Einblicken und Videos in den Alltag der Mannschaft.
Teil 1: Eine Woche mitten im Treiben eines Eishockeyclubs (Abo+)
Teil 2: «All Access» beim Eishockey-Club: Der Match-Tag (Abo+)
Teil 3: «All Access» beim HC Davos: Im Kopf der Goalies und der Verletzten (Abo+)
Teil 4: «All Access» beim HC Davos: Der Mentaltrainer und die Liebe (Abo+)
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Eisbrecher – der Hockey-Podcast von Tamedia
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