
Notre-Dame nachbauen? Es ist möglich. In Kanada steht die Basilika Notre-Dame de Montreal, 1829 vollendet, inspiriert vom Pariser Original. Auch die National Cathedral in der US-Hauptstadt Washington, Baubeginn 1907, sieht Notre-Dame ziemlich ähnlich, selbst wenn sie gutamerikanisch grösser ist und neben Engeln eine ornamentale Darth-Vader-Figur an der Aussenmauer hat. Im chinesischen Shenzhen schliesslich steht in einem Vergnügungspark eine Replika von Notre-Dame, gleich neben dem Eiffelturm. Frankreich für alle.
Der aufwendigste Nachbau folgt noch, in Paris an originaler Stätte. «Wir bauen Notre-Dame wieder auf, alle miteinander», versprach Präsident Emmanuel Macron, noch während des Brands, auf der Strasse. Später sagte er am Fernsehen, Notre-Dame werde schöner als zuvor. Der Staatschef sieht die Kathedrale als Identitätsträger und Schicksalsort. Das Gebäude soll auferstehen, um die Lebendigkeit der Nation zu bezeugen. Dass die Türme noch stehen, zeigt die Unbeugsamkeit Frankreichs. Dass der von der Turmspitze gefallene gallische Hahn in Löschwasserschlamm und Trümmern geborgen werden konnte: Kein Zufall. Wie Blut nach einer Katastrophe wird jetzt Geld für die Restauration gespendet, einige wenige vermögende Familien haben innert Stunden 500 Millionen Euro gestiftet. Für die Heimat.
Spiel mit den Trümmern
Dass historisch bedeutsame Bauten nach Beben, Bomben, Flut und Feuer rekonstruiert werden, ist normal. Das Capitol in Washington, Sitz des US-Parlaments und errichtet 1800: Niedergebrannt von den Briten 1814, neu aufgebaut danach. Der Campanile di San Marco in Venedig, erbaut um das Jahr 900: Eingestürzt am 14. Juli 1902, wiederaufgebaut. Das Zunfthaus zur Zimmerleuten am Zürcher Limmatquai: Stammt aus dem 12. Jahrhundert, musste nach dem Brand von 2007 aber umfassend rekonstruiert werden. Die Kapellbrücke in Luzern, älteste Holzbrücke Europas: Abgebrannt im Sommer 1993, wiederhergestellt zur Freude Einheimischer und Touristen. Es gibt Bauwerke, auf die man nicht verzichten will. Weil sie uns lieb sind, zum Ortsbild gehören und uns sagen, wer wir sind.
Wird beim Wiederaufbau gelogen? Sicher. Die Tragödie von Feuer oder Flut soll ungeschehen gemacht werden. Kindlich, eigentlich: Der Turm wird wieder heil, die Tränen versiegen. Historiker mögen klagen, dass die Rekonstruktion die Fakten von Einsturz oder Brand verschleiert, dem Betrachter Kontinuität vorgaukelt, wo keine ist: Dieses Haus steht stolz seit 1000 Jahren, wurde nur ab und zu neu gebaut. Wie das Schwert des Urgrossvaters, bei dem die Klinge ersetzt und der Griff ausgetauscht wurde.
Fachleute regen bei Wiederaufbauten oft ein Spiel mit den alten Trümmern an, damit der Schaden sichtbar bleibt. In Afghanistan wird erwogen, einen der 2001 von den Taliban gesprengten Buddhas von Bamian aus Bruchstücken und Silikon zu rekonstruieren. Ein kompletter Neubau der Statuen würde die Sprengung zu sehr verschweigen. Auch für die zerstörten Tempel von Palmyra in Syrien gibt es Pläne, welche die Narben des Krieges berücksichtigen. Manchmal wird auch bewusst nicht wieder aufgebaut: Die zerbombte Gedächtniskirche in Berlin ist bis heute ein Mahnmal, in Manhattan erinnern Vertiefungen im Boden an die Zwillingstürme, die bis am 11. September 2001 standen.
Museum Europa
Bei Notre-Dame beginnt die Rekonstruktion noch im Schock des Augenblicks. Was aber, wenn ein Wiederaufbau Jahrzehnte nach dem Verlust beschlossen wird? In Berlin-Mitte wird derzeit mit grossem Aufwand das Stadtschloss aus dem 18. Jahrhundert rekonstruiert, das die DDR-Führung 1950 gesprengt und durch ihren Palast der Republik ersetzt hatte, Letzterer bekannt als «Erichs Lampenladen». In Frankfurt eröffnete 2018 die neu gebaute Altstadt. «Die Gebäude wirken wie frisch aus dem 3-D-Drucker», urteilte die «Süddeutsche Zeitung». In Dresden mahnt die neu-alte Innenstadt Kritiker schon länger an einen Jurassic-Park des Barock.
Ein Nachbau will Geschichte erlebbar machen, oft um den Preis ahistorischer Inszenierung. Um moderne Bauwerke geht es dabei selten, auch wenn in Berlin angeregt wird, Abschnitte der verschwundenen Mauer wieder aufzubauen, weil die Touristen ständig danach fragen. Meist aber geht es um Fachwerk, Giebel und Gesimse.
Das ist nicht immer harmlos. In Moskau steht seit 20 Jahren eine Replika der Christ-Erlöser-Kathedrale, die Stalin 1931 sprengen liess und an dessen Stelle sich 33 Jahre lang das Freibad Moskwa befand. Der Neubau steht für das Wiedererstarken der orthodoxen Kirche und ihre neue Verbundenheit mit dem Kreml. In Deutschland wird diskutiert, ob die Folgen des Zweiten Weltkriegs architektonisch getilgt werden dürfen. Die Garnisonkirche in Potsdam verbrannte nach dem Bombardement der Briten 1945, die DDR trug die Ruine ab. Dass die Kirche nun wieder auferstehen soll, lässt Stadtbewohner über «Barockfaschisten» und «Baugeschichtspegida» schimpfen. Andere interpretieren die Geschichtsversessenheit vieler Bürger sanfter als Reaktion auf die Kargheit und Kälte moderner Architektur.
Die Spendenbereitschaft für Notre-Dame ist bemerkenswert. Gerade Millionärsfamilien haben das Bedürfnis, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Die Verfügbarkeit der grossen Summen verblüfft und erfreut. Man stelle sich vor, so viel Geld würde auch ohne flammenden Kirchturm mobilisiert, vielleicht für ein konstruktives und nicht nur rekonstruierendes Vorhaben. Wunderbar! So bleibt die klamme Erkenntnis: So richtig in Fahrt kommt Europa nur in Fragen der Denkmalpflege. Museum Europa. Vielleicht ist der Unterschied zwischen Notre-Dame in Paris und jenem im chinesischen Freizeitpark geringer, als es scheint.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch
Immer wieder auferstehen
Die Rekonstruktion von Notre-Dame ist beschlossen, das Geld da. Wäre Europa doch öfter so entschieden!