Grosse Pläne eines BaselbietersIm Sommer auf Rollen, im Winter auf Kufen
Flavio Gross aus Münchenstein hat auf den Inlines wie im Eisschnelllauf Ambitionen. Doch der 19-Jährige hat immer wieder mit gesundheitlichen Rückschlägen zu kämpfen.

Es geht also noch! Die Erleichterung ist gross. Als Flavio Gross im Januar nach seinem ersten Wettkampf in diesem Jahr auf die Anzeigetafel blickt, ist er einfach nur «zufrieden». Über 3000 Meter läuft der Eisschnellläufer aus dem Baselbiet eine persönliche Bestzeit. Das ist bemerkenswert. Weil er seit den Olympischen Jugendspielen in Lausanne vor Jahresfrist keinen Wettkampf mehr bestreiten konnte. Aber auch, weil er inzwischen einen weiteren gesundheitlichen Rückschlag hat hinnehmen müssen.
Gross sagt: «Ich bin noch nicht ganz fit, aber ich nähere mich langsam wieder meiner gewünschten Form.» Das ist nachvollziehbar. Im Sommer 2019 bricht sich der Münchensteiner bei einem Sturz mit den Inlines das Schienbein, den internationalen Grossevent im Waadtland, bei dem seine Disziplin in St. Moritz durchgeführt wird, absolviert er mit einer Metallplatte im Bein. Im letzten Sommer wird diese wieder entfernt, Gross fängt ein nächstes Mal mit dem Aufbautraining an. Doch zwei Wochen nach dem Eingriff folgt der nächste Rückschlag: Beim Schwimmen kugelt sich Gross das Schultergelenk aus. Der 19-Jährige muss sich nach einer weiteren Operation wieder gedulden, ehe er im November voll ins Training einsteigen darf.
Das besondere Geburtstagsgeschenk
Es sind dies Verletzungen, die Gross in seiner sportlichen Entwicklung zwar bremsen, doch mit denen er umzugehen weiss. Es heisst, sein Wille, sich jeweils an die Spitze seines Leistungsvermögens zurückzukämpfen, sei unbeschreiblich. Das hat auch damit zu tun, dass ein Zeckenbiss in seiner Jugend ihm aufzeigte, wie schmal der Grat der Gesundheit sein kann. Eine Gehirn- und Hirnhautentzündung lässt seinen geliebten Sport abrupt in den Hintergrund rücken. Doch Gross gewinnt auch diesen Kampf, erholt sich von der Krankheit und gewinnt von dieser harten Zeit Abstand dank seiner Passion.
Diese ist seit fünfzehn Jahren das Inlineskaten. Auf den Rollen wird Gross in Basel und Liestal gross, ehe er zu seinem 10. Geburtstag einen Gutschein für ein Eisschnelllauf-Schnuppertraining geschenkt bekommt. Auf der Kunschti St. Margarethen dreht er erste Runden und ist davon so angetan, dass es für ihn seither heisst: im Sommer auf Rollen, im Winter auf Kufen.

Die Region Basel hat er aber inzwischen wegen der Trainingsmöglichkeiten verlassen. Seit September lebt und trainiert er im bayerischen Inzell. Dort hat er nicht nur den Vorteil, mit dem Schweizer Team sowie Athleten anderer Nationen trainieren zu können, sondern findet auch eine der besten 400-Meter-Eisbahnen Europas vor. In der Schweiz hingegen macht ein Eisschnelllauf-Training für ihn wenig Sinn, weil es an einer 400-Meter-Rundbahn fehlt.
So hat Gross auch mit der Sportmittelschule in Engelberg, die er besucht, arrangieren können, dass er den Unterrichtsstoff von Deutschland aus lernen kann. Geplant gewesen waren eigentlich Trainingsblöcke in Inzell, Schuleinheiten in Obwalden. Doch mit Beginn der zweiten Corona-Welle wurde dieses Vorhaben für Gross aus organisatorischer Warte und wegen der Infektionsgefahr zu kompliziert. Deshalb weilt er seit über vier Monaten in seiner Trainings-«Blase» in Inzell. «Das ist für mich okay», sagt Gross, «wenn man wieder einfacher reisen kann, wird mein Alltag wohl anders aussehen.»
Ohnehin ist die Saison auf dem Eis bald fertig. Ende Februar läuft er seinen letzten Wettkampf, wiederum in Inzell. Was danach folgt, ist noch offen. Sicher ist, dass Gross von Kufen zurück auf die Rollen wechselt. Unsicher hingegen, ob die Inline-Saison auch tatsächlich stattfinden kann. Es sind dies Entscheide, auf die Gross keinen Einfluss nehmen kann. Was der Baselbieter hingegen bewirken kann, ist sein Weg. Dieser ist nach all den Rückschlägen nach wie vor derselbe. «Ich möchte Weltmeister auf den Inlines werden und im Eisschnelllauf an den Olympischen Spielen teilnehmen.»
Dass dies möglich ist, wenn man aus einem Land stammt, in dem Eisschnelllauf eine Randsportart ist, zeigt das Beispiel von Livio Wenger. Der 28-Jährige ist Gross’ Vorbild. Nicht erst seit der Schenkoner in Pyeongchang 2018 im Massenstart-Rennen Vierter wurde. Gross sagt, dass er von seinem Trainingspartner profitiere, ebenso von seinem langjährigen Trainer Kalon Dobbin. Es sei ein Vorteil, dass die Schweizer Nationalkader Inline und Eisschnelllauf identisch besetzt seien und vom selben Coach betreut würden.
So kann Flavio Gross weiter in vertrautem Umfeld an Technik, Kraft und Kondition arbeiten. Denn als Nächstes möchte er den Sprung in den Eisschnelllauf-Weltcup schaffen, damit er zum Kandidaten für Olympia 2026 wird. Sofern er von Verletzungen nicht gebremst wird. Und sofern er weiter die Motivation hat, sich für seine Passion voll reinzuknien. Doch davon ist der 19-Jährige überzeugt, wenn er sagt: «Die Geschwindigkeit in den Kurven ist einzigartig und das Brennen in den Beinen nach einem Rennen ebenso. Für diese Momente arbeite ich hart, weil ich nur eines vor Augen habe: Ich möchte jeden Wettkampf gewinnen.»
Es sind dies reife Worte eines 19-jährigen Leistungssportlers, eines Sportlers, der erst am Anfang seiner Karriere steht. Aber auch eines Sportlers, der aufgrund seiner Rückschläge weiss, was es braucht, um diese Ziele konsequent verfolgen zu können.
Dominic Willimann ist seit 2007 Sport-Redaktor der BaZ und kennt den regionalen Sport aus dem Effeff. Ebenso ist er mit den Geschehnissen rund um den FC Basel vertraut und hat seit 2007 kein Eidgenössisches Schwingfest verpasst.
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