«Im Heim sind Sicherheitsregeln nötig wie beim Geldtransport»
Wie kann man Heimbewohner vor sexueller Gewalt schützen? Die Fachfrauen Corina Elmer und Katrin Maurer geben in einem Buch Antworten.
Mit Corina Elmer sprach Denise Marquard Frau Elmer, in Bern hat ein Sozialtherapeut 114 behinderte Kinder missbraucht. In einer Krippe in Volketswil ist ein Mann wegen sexueller Gewalt an vier Kindern verhaftet worden. Was löst das bei Ihnen als Expertin aus? Ich bin schockiert, was das Ausmass betrifft. Andererseits geschieht sexueller Missbrauch von Abhängigen in Institutionen täglich. Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten haben ein 4- bis 5-mal höheres Risiko, Opfer von sexuellen Grenzverletzungen zu werden. Warum ist das so? Es ist eine Frage von Abhängigkeit und Status. Menschen mit geistiger Behinderung sind mangelhaft aufgeklärt. Wenn sie missbraucht werden, finden sie keine Worte dafür. Und wenn sie reden, wird ihnen nicht geglaubt. Erhalten Behinderte überhaupt eine Sexualerziehung? Sie erhalten sicher mehr Sexualerziehung als früher. Doch die Verbesserungen sind noch nicht optimal. Es ist auch schwierig. Erwachsene müssen sich mit ihrer eigenen Sexualität auseinandersetzen. Sie müssen sich Gedanken machen, wie eine behinderte Person masturbieren kann. Da sind viele überfordert. Weshalb hat die Gesellschaft derart Mühe, Behinderten Sexualität zuzugestehen? Es ist ein Tabu. Bei Menschen, die nicht mit Behinderten zu tun haben, löst die Vorstellung «Behinderte und Sexualität» oft Ekel aus. Angehörige haben Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft. Deshalb wird die Sexualität totgeschwiegen. Fachpersonen denken heute anders: Behinderte sollen ihre Sexualität selbstbestimmt leben können. Was hat Sie und Katrin Maurer veranlasst, ein Handbuch zu schreiben, wie Heime dem Missbrauch vorbeugen können? Wir sind schon lange in diesem Bereich tätig. Jetzt wollten wir unsere Erfahrungen festhalten und möglichst konkrete Beispiele geben, wie Kinder, Jugendliche und Menschen mit Behinderung besser vor sexuellen Übergriffen geschützt werden können. Wie können sich Krippen und Horte verändern, dass sie kein täterfreundliches Umfeld mehr bieten? Wir plädieren für fachliche Standards, die auf die Institution und deren Bewohner abgestimmt sind. Standards enthalten Regeln für Situationen, in denen Missbräuche vorkommen: am Wickeltisch in der Krippe, im Schlafzimmer oder Bad im Behindertenheim oder bei Ausflügen und Lagerwochen. Werden diese Standards schon bei der Anstellung ein Thema sein? Eine Person, die neu eingestellt wird, soll solche Regeln unterschreiben. Damit lässt sich auf Übertretungen reagieren. Gilt beispielsweise die Regel, dass beim Betreten eines Zimmers immer angeklopft wird und die Tür offen bleibt, der oder die Angestellte die Tür aber schliesst, haben Mitarbeitende und Bewohner die Möglichkeit, dies der Leitung zu melden. Die Leitung wiederum hat die Pflicht, die betreffende Person zu ermahnen. Wiederholte Verstösse gegen geltende Abmachungen werden in den Personalakten festgehalten und im Arbeitszeugnis erwähnt. Führt das nicht zu einer Überreglementierung? Widerstand gegen Reglemente zeigen vor allem jene Personen, die nicht bereit sind, die Machtverhältnisse anzuschauen. Jede Betreuungsperson hat Macht. Damit diese nicht missbraucht wird, braucht es wie bei einem Geldtransport Sicherheitsstandards. Solche Sicherheitsstandards schaffen aber auch Distanz. Nähe in der Betreuung kann auf unterschiedliche Weise hergestellt werden. Sie hängt vom Alter der Betreuten und der Aufgabe ab. Kleine Kinder brauchen Körperkontakt. Die Initiative für Körperkontakt muss vom Kind her kommen, nicht von der erwachsenen Person. Besteht nicht die Gefahr, dass eine Meldepflicht zu Misstrauen unter dem Personal führt? Wenn ein Heim nicht anerkennt, dass Übergriffe möglich sind, gelten Leute, die einen Verdacht melden, als Nestbeschmutzer. Die Auseinandersetzung mit Missbrauch schafft eine neue Kultur, sie funktioniert nicht von heute auf morgen. Ich habe die Erfahrung gemacht: Je autoritärer oder je lascher ein Heim ist, desto eher sind Übergriffe möglich. Viel Partizipation ist für das Heim eher unangenehm, stärkt aber mögliche Opfer. Ist es nicht Wunschdenken, mit einem ausgeklügelten Präventionskonzept sexuelle Gewalt verhindern zu können? Sexueller Missbrauch lässt sich nie ganz verhindern. Ich bin aber überzeugt, das Risiko lässt sich durch Präventionskonzepte senken. Diese müssen die Barriere zur Ausübung sexueller Gewalt erhöhen und es den Opfern erleichtern, Widerstand zu leisten, also Hilfe zu holen. Für die Personen im Umfeld braucht es Instrumente, um rasch auf einen Übergriff reagieren zu können. Eine konsequente Untersuchung jeder Verdachtssituation ist unabdingbar für den Opferschutz.
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