Im Gegenwind der Vorurteile
Russlands neuer Jet ist moderner, komfortabler und sparsamer – wenn man es glaubt.

Juri Sljusar, Generaldirektor des staatlichen russischen Luftfahrtkonzerns United Aircraft Corporation (UAC), ist die Bescheidenheit in Person. Gefragt nach den Marktchancen seiner Produkte, zählt er erst einmal die Qualitäten der Konkurrenz auf. Nun ist das jüngste Produkt seines Unternehmens, der Mittelstreckenjet MS-21, vor einer Woche, am letzten Mai-Sonntag, ohne grosses Medienaufhebens erstmals geflogen. Sofort kamen die hämischen Kommentare – von «grobe Airbus-Kopie» bis «auch die noch». Denn China hat nur 23 Tage zuvor ein vergleichbares Flugzeug in die Luft gebracht, die Comac 919. Beide Flugzeuge zielen auf den von Airbus A320 und Boeing 737 dominierten Massenmarkt.
Die Fachwelt ist beeindruckt
Doch in der Fachwelt tönt es ausgesprochen wohlwollend. Vor allem die Low-Cost-Airlines wünschen sich seit Langem brauchbare Alternativen zum US-europäischen Duopol. Das britische Fachportal Flightglobal schrieb schon zum Roll-out vor einem Jahr: «Die MS-21 zeigt den Airlines, was sie bekommen könnten, wenn sie Airbus und Boeing nicht alles glauben würden.» Das Flugzeug hat einen neuen, komplett aus Karbon gefertigten Flügel. Der ist leichter und erlaubt neue aerodynamische Lösungen wie den Verzicht auf Winglets, die kleinen aufstehenden Flügelspitzchen. Durch veränderte Biegung bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten bildet der Kunststoffflügel in jeder Situation die ideale Form. Der Rumpf dagegen ist aus Metall, allerdings aus Lithium-Aluminium, ähnlich leicht und teuer wie Kohlefaser, aber einfacher zu reparieren.
Der Rumpf der MS-21 hat die Form eines liegenden Ovals. Der Innenraum ist elf Zentimeter breiter als beim Airbus A320. Die zusätzliche Breite ergibt einen breiteren Mittelgang. Damit können Passagiere am Service-Trolley vorbei zur Toilette gehen und das Ein- und Aussteigen geht schneller. Die Airlines können deshalb mit knapperen Zeiten am Flughafen planen.
Moderne Flugzeuge werden möglichst präzis in kleinste Marktlücken hineinkonstruiert. Die nun vorgestellte MS-21-300 ist grösser als die A320 und minim kleiner als die A321. Weiter geplant ist eine verkürzte Variante MS-21-200, die etwas kleiner als die A320, aber grösser als die A319 wird. Eine verlängerte MS-21-400 für bis zu 240 Passagiere soll es genauso geben wie eine Langstreckenvariante – für die zehnstündigen russischen Inlandflüge.
Die MS-21 ist ein internationales Puzzlespiel. Die Kunst der Russen ist es, sich als Systemintegrator zu etablieren und all die vielen Einzelteile aus der ganzen Welt zu einem sinnvollen Ganzen zu vereinen. Angetrieben wird das Flugzeug von Triebwerken des Typs Pratt & Whitney PW1400G, einer grösseren Variante desselben Triebwerks, das auch an den Flügeln der neuen Bombardier C-Series der Swiss hängt. Die Besonderheit ist das Reduziergetriebe, das den Frontrotor wesentlich langsamer drehen lässt. Dadurch wird ein viel grösserer Rotor möglich, was Treibstoff spart und den Lärm reduziert.
Weniger Gewicht, mehr Profit
Allen Varianten die MS-21 gemeinsam ist die höhere Geschwindigkeit als die der Konkurrenz. Damit lassen sich eng getaktete Flugpläne in dichten Lufträumen besser einhalten. Noch wichtiger sind aber die zwei Tonnen Gewichtsersparnis gegenüber der neusten A320-200 NEO. Das entspricht der Masse von 24 Passagieren. Airlines machen nur zwei oder drei Prozent Gewinn. Nur die letzten vier Passagiere, die ins Flugzeug einsteigen, bedeuten Profit. Wenn ein neues Flugzeug nun auf jedem Flug die Kosten von zwei Dutzend Fluggästen einspart, stellt das die Betriebsrechnung auf den Kopf. Airlines können mit neuen Preismodellen arbeiten oder sie können bisher defizitäre Destinationen anfliegen und damit auch früher unerreichbare Passagiere auf die Langstrecke bringen.
Allerdings wird die MS-21 kaum billiger als die Konkurrenz. Denn die Zeiten, in denen die russische Flugzeugindustrie erfolglos versuchte, allein über den Katalogpreis zu konkurrieren, sind vorbei. Die MS-21 ist ein teures Flugzeug, fast alle Fertigungsschritte sind teurer als das traditionelle genietete Aluminium. Der Karbonflügel wird mit neu entwickelten Prozessen und Maschinen gebaut, der Rumpf besteht aus Material, dessen Staub und Späne leicht Feuer fangen. UAC strebt einen relativ bescheidenen Marktanteil von zehn Prozent an.
Das heisst aber auch, dass auf jedes Flugzeug ein viel grösserer Anteil der Entwicklungs- und Industrialisierungskosten geschlagen werden muss als bei der grossen Konkurrenz. Die Boeing 737 und die A320 sind ohnehin so alt, dass grosse Teile der Entwicklungskosten längst amortisiert sind. Doch die möglichen Einsparungen bei den direkten Betriebskosten der MS-21 von 12 bis 15 Prozent würden sogar höhere Kapitalkosten rechtfertigen.
Da könnte der eine oder andere Konzern durchaus mal etwas wagen. Lufthansa hat das bereits vorgemacht. Statt für die Swiss die bewährten Embraer Ejets als Jumbolino-Ersatz zu bestellen, für die es in Zürich schon ein ausgebildetes Pilotencorps gab, hat man die bis dahin erfolglosen neuen Bombardier-Maschinen geordert. Denn sie könnten langfristig im Konzern die wirtschaftlichere Lösung sein. Ähnliche Überlegungen könnte es auch mit der MS-21 bei grossen Konzerngruppen geben.
Aber in Russland geht es um mehr als nur um die Entwicklung dieses einen Flugzeuges. Die Luftfahrtindustrie ist eine der wenigen Branchen, in welcher das Land technologisch mithalten kann. Der Luftfahrt-Cluster in und um Moskau ähnelt dem Pharma-Cluster in Basel. Sowohl Airbus wie Boeing unterhalten hier ihre grössten Technologiezentren ausserhalb der USA und Europas, Dassault, Embraer und Eurocopter testen und entwickeln hier und es gibt eine lebendige Start-up-Szene mit kleinen Unternehmen, die aus den Universitäten, Forschungslabors und Konstruktionsbüros entstehen.
Gemeinsam mit China
Dazu passt, dass UAC gemeinsam mit dem chinesischen Konzern Comac für 18 Milliarden Euro ein neues Grossraumflugzeug entwickeln will. Auch da hat man Erfahrung. Die Iljuschin 96-400M aus den 1990er-Jahren ist so gross wie die Boeing 777 und hat eine US-Zertifizierung. Ein neues zweimotoriges Grossraumflugzeug, gebaut mit den Erfahrungen der MS-21 und der finanziellen Unterstützung Chinas, ist deshalb nur die logische Fortsetzung des bisherigen Weges.
Dieser hat schon 1985 angefangen, als die sowjetischen mit den amerikanischen Zertifizierungsvorschriften harmonisiert wurden. Seither hat sich die russische Industrie mühsam ans internationale Niveau herangearbeitet. Vielleicht gibt es sogar eine Lücke im Markt, welche die Airlines zwar schon lautstark beklagt haben, Airbus und Boeing aber bisher ignorieren: die eines Kurzstrecken-Grossraumflugzeugs, wie es der Airbus A300 war.
So ein Kurzstreckenflugzeug mit über 300 Plätzen bräuchte kleinere Flügel, ein leichteres Fahr- werk und eine leichtere Struktur als die gegenwärtigen Langstrecken-Grossraumflugzeuge. Diese aber nachträglich von Lang- auf Kurzstrecken zu trimmen, wäre viel zu teuer. Anders sieht das dagegen aus, wenn man ein Projekt von Anfang an darauf auslegt. Entsprechende Studien hat der zu UAC gehörende Flugzeugbauer Tupolew schon vor zehn Jahren präsentiert.
Die Chinesen machen den Russen vor allem wegen deren langjähriger Erfahrung mit internationalen Zertifizierungen Avancen. Das stille Desaster des chinesischen Regionaljets Comac ARJ-21 zeigt diesen Rückstand. Nur sechs Maschinen wurden hergestellt, Passagierflüge gibts keine mehr, eine westliche Zertifizierung liegt in weiter Ferne. Der gleichzeitig lancierte, komplett neu entwickelte Suchoi Superjet hat dagegen schon im Februar 2012 die europäische Easa-Zertifizierung erhalten, mittlerweile sind 104 Maschinen in Betrieb, auch in Europa und Mexiko.
Zeiten ändern si ch
Doch bevor man den Chinesen unter die Arme greift, konzentriert sich UAC auf die MS-21. Nun beginnen die Flugerprobung und die Arbeiten an der Easa-Zertifizierung. Die Zeiten reiner Airbus- oder Boeing-Flotten sind bei den Airlines längst vorbei. Bei den kleineren Flugzeugen verdrängen Bombardier und Embraer die schweren, unwirtschaftlicheren Boeing 737-600 und Airbus A318 und A319. Besonders gut eignet sich die MS-21 für den gemeinsamen Betrieb mit den Bombardier C-Series. Der Grössensprung vom grössten Bombardier, der CS300, zum kleinsten, MS-21-200, ist etwas grösser als zur A319. Triebwerke, Flügel und Rumpf sind technisch sehr ähnlich, beide sind die modernsten Flugzeuge ihrer Klasse. Für Airline-Manager, Mechaniker und Piloten haben Bombardier C-Series mit der MS-21 mehr Gemeinsamkeiten als mit den Marktführern. Juri Sljusar meint dazu: «Ich bin überzeugt, die Airlines werden sich unser Flugzeug sehr genau anschauen.» Da dürfte er recht haben – ganz ohne Bescheidenheit.
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