
Eine Frau ist kurz nach sieben Uhr morgens auf dem Heimweg zu ihrer Wohnung an der Elsässerstrasse. Im Tram sprechen sie zwei Männer an, die sie dann ein Stück begleiten. Bis einer die Frau vor ihrer Haustür plötzlich festhält, während der andere sie vergewaltigt. Noch sind die Täter nicht gefasst. Es gibt keine Anklage, keinen Gerichtstermin. Wenn es jedoch gelingt, den beiden Männern den Prozess zu machen, finden die Richter hoffentlich ein angemessenes Urteil.
Aber was ist angemessen für ein solches Verhalten? Ich hatte beruflich schon mit mehreren Opfern von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung zu tun. Sie alle sagen, dass die Taten grosse Teile ihrer Existenz und ihrer Persönlichkeit zerstört haben. Wo Selbstvertrauen war, ist heute Schamgefühl, wo sie Freude spürten, haben sie nur noch Angst. Statt Lust empfinden sie Ekel. Einige leiden unter Depressionen, Panikattacken, eine ist arbeitsunfähig, eine andere hat sich Jahre nach der Tat das Leben genommen. Eine Beziehung zu führen, ist für viele schwierig. Weil sie keine Nähe mehr ertragen oder der Partner nicht damit umgehen kann, dass die Frau an seiner Seite ein Opfer ist.
Ich kenne persönlich keine Frau, die nach einer Vergewaltigung weitermachen konnte wie davor. Die ähnlich glücklich war und ihr Leben gleich gut gemeistert hat wie früher. Alle sagten mir, es gebe ein Leben vor und eines nach dem Übergriff. Das erste wurde ihnen genommen, das zweite versuchen sie irgendwie zu meistern – oft mithilfe von Therapien und Medikamenten.
Jeder dritte Vergewaltiger muss nicht ins Gefängnis
«Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft», heisst es im Gesetz. Es ist ein Strafmass, das fast nie ausgeschöpft wird. Im Gegenteil: Das Bundesamt für Statistik hat zwischen 2006 und 2016 Urteile gegen Sexualstraftäter ausgewertet und herausgefunden, dass jeder dritte verurteilte Vergewaltiger keinen einzigen Tag ins Gefängnis musste.
In der Schweiz können Haftstrafen von bis zu zwei Jahren bedingt, solche bis zu drei Jahren teilbedingt ausgesprochen werden. Es ist eine Eigenheit unseres Landes, dass besonders bei Ersttätern in der Regel eine bedingte Strafe verhängt wird. Auch bei Sexualdelikten.
Es ist ein Klaps auf die Finger. Einmal ist keinmal, aber tu es nicht wieder. Man kann sich nur annähernd vorstellen, was in einem Opfer vorgeht, wenn der Vergewaltiger mit einem erleichterten Lächeln den Gerichtssaal verlässt.
Kann es sein, dass Richter manchmal auffallend mild urteilen, weil sie ein paar letzte Zweifel haben?
Sexualstraftaten stellen Richter oft vor eine schwere Aufgabe. Es fehlt in der Regel an Zeugen und Beweisen. Der Sex sei einvernehmlich gewesen, behaupten die Beschuldigten. Es sei vergewaltigt worden, sagt das Opfer. Um einen Angeklagten schuldig zu sprechen, muss ein Gericht in der Schweiz jedoch sicher sein, dass dieser die Tat begangen hat. Ansonsten gilt: in dubio pro reo. Kann es sein, dass Richter manchmal auffallend mild urteilen, weil sie ein paar letzte Zweifel haben? Weil sie nicht verantwortlich sein wollen, wenn ein Mann unschuldig für acht Jahre ins Gefängnis muss?
Es wäre zumindest eine Erklärung dafür, dass verurteilte Vergewaltiger fast straflos davonkommen. Es gibt aber keine Entschuldigung für andere Fälle, wie den eines Mannes, der in zehn Fällen minderjährige Mädchen sexuell genötigt und teilweise vergewaltigt hat und der 2016 nur eine bedingte Gefängnisstrafe von zwei Jahren erhielt. Der Angeklagte hatte einige der Übergriffe sogar gefilmt, und somit das Beweismaterial gleich selber geliefert. Der Begriff der sexuellen Nötigung stellt hier eine stossende Verharmlosung dar, zu der unter anderem auch die erzwungene orale und anale Penetration gehören.
Weniger gravierende Delikte werden härter bestraft
Die Auswirkungen von Straftaten auf die Opfer und auch die Motive der Täter sollten bei der Rechtsprechung in der Schweiz stärker gewichtet werden. Ein Nigerianer musste in Bern für mehrere Jahre ins Gefängnis, nachdem die Polizei vor fünf Jahren bei ihm zwei Kilogramm Heroingemisch sichergestellt hatte. Er war neu in der Schweiz, es war die erste Verurteilung. Auch Steuerbetrüger dürfen in der Regel nicht mit Milde rechnen. Dabei sind weder das Motiv noch die Auswirkungen dieser Delikte ähnlich abscheulich und gravierend wie bei einem Sexualstraftäter.
Diesen «erhöhten Unrechtsgehalt» will nun auch der Bundesrat besser zum Ausdruck bringen. Bei der Revision des Sexualstrafrechts soll die Mindeststrafe bei Vergewaltigung auf zwei Jahre erhöht werden, womit bedingte Strafen vom Tisch wären.
An der meist dürftigen Beweislage wird das leider nichts ändern. Es ist aber zu wünschen, dass in den klaren Fällen in Zukunft ohne Milde geurteilt wird. Um den Opfern und damit allen Frauen zu signalisieren: Ihr zählt.
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Ihr zählt
Sexualstraftäter kommen regelmässig mit milden Strafen davon. Ihre Opfer leiden ein Leben lang.